Sendungsbewusstsein

Kritische Auseinandersetzung mit den Medien

Armut nach Thilo Sarrazin und nach Anna Bergmann Montag, 6. August 2012

Im heutigen Interview, das das österreichische „Standard“ mit einer Kulturhistorikerin Anna Bergmann geführt hat, wird Thilo Sarrazin schon wieder für das Übel Deutschlands verantwortlich gemacht. Besonders klar wird das im letzten Satz:

Armut wird als parasitärer Lebensstil gedeutet, der immer mehr als eine negative Charaktertypologie und nicht mehr als ein Ergebnis unserer gesellschaftlichen Misere im Sinne eines Strukturmerkmals des neoliberalen Globalisierungsprozesses wahrgenommen wird.

Wie es für heutige Geisteswissenschaftler leider üblich ist,  gedeutet werden nicht Fakten der Kultur, sondern Interpretationen. Eine nicht genehme Deutung wird als richtig oder falsch beschildert, argumentiert dagegen wird gar nicht. Anders gesagt, es werden Argumentationsfehler des Gegners aufgelistet, der Gegner selbst wird reichlich beschimpft, die Realität nicht aber neu analysiert, Hypothesen werden nicht einmal ausprobiert oder zumindest angesprochen.
Dass nicht Sarrazin, sondern die sozial-staatliche Förderung die generationsübergreifende Armut fördert, wird dabei ausgeblendet.

 

Eine angenehme Genetik und Biochemie mit und ohne Sarrazin Montag, 6. September 2010

Das Halbwissen ist sich sicher und der Tsunami der Empörungen hört nicht auf. Alle wissen auf einmal, was richtig und was falsch ist. Thilo Sarrazin wird vorgeworfen, die „rote Linie“ auf dem Wege zu den Nürnberger Rassengesetzen überschritten zu haben. Mit anderen Worten, er wird dafür verantwortlich gemacht, wenn er als Rassist beschimpft wird.
Ich teile seine These, „Intelligenz ist zu 50 bis 80 Prozent angeboren“, nicht. Ich glaube auch keinem Genetiker, der das sagt oder von welchem Sarrazin das übernimmt. Sarrazin glaubt das, ich kritisiere ihn dafür. Mein Bezug bleibt dabei die Aussage der Wissenschaft, wie zum Beispiel von Kerstin Elbing vom Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland (Link):

Dass es bei Volksgruppen genetische Unterschiede in Bezug auf Intelligenzleistungen geben könnte, ist nach dem gegenwärtigen Stand des Wissens nicht zu erwarten. Intelligenz wird von vielen Genregionen beeinflusst, die in jedem Individuum neu zusammengewürfelt werden. […] Dass es auch messbare Unterschiede in Intelligenzleistungen gibt, liegt nur daran, dass die Intelligenztests durch kulturelle Vorerfahrungen beeinflusst werden. Jede Volksgruppe, die einen Intelligenztest auf der Basis ihrer eigenen Kultur entwickeln würde, würde feststellen, dass die meisten anderen Kulturen durchschnittlich schlechtere Leistungen zeigen als die Mitglieder des eigenen Kulturkreises. […] Dass wir neben den offensichtlichen Unterschieden in den Hautfarben überhaupt Ethnien unterscheiden können, liegt an den ausgesprochen hoch entwickelten kognitiven Fähigkeiten des Menschen, die für sie relevante Informationen aus der Umwelt akzentuieren. Deswegen können wir als Europäer auch sehr gut europäische Volksgruppen unterscheiden, asiatische aber viel schlechter. Umgekehrt ist es aber genauso – Asiaten können europäische Volksgruppen viel schlechter unterscheiden. Was uns subjektiv als großer Unterschied erscheint, muss daher nicht bedeuten, dass es auch tatsächlich einen großen genetischen Unterschied gibt.

Fazit: Herr Sarrazin hat die grundlegenden genetischen Zusammenhänge falsch verstanden – seine Aussagen beruhen auf einem Halbwissen, das nicht dem Stand der Evolutionsforschung entspricht.

Erstaulicherweise ist aber Thilo Sarrazin nicht der Einzige, der Stuss in diesem Sinne redet. Zum Beispiel, zitiere ich hier Gottfried Schatz, der von der NZZ als „eine internationale Kapazität“ auf dem Gebiet der Biochemie eingeführt wird (Link):

Wir Menschen haben, im Gegensatz zu Tieren, nicht nur ein genetisches System, sondern deren zwei: ein chemisches genetisches System, das sich auf das Erbmaterial DNS gründet. Und ein kulturelles genetisches System, das kulturelle Werte von einer Generation zur nächsten überträgt. Epigenetische Veränderungen sind Brücken zwischen diesen beiden Systemen und schenken uns damit beträchtliche Freiheit, unser Leben zu gestalten. Die Behauptung, eine stärkere Vermehrung einer bestimmten Gruppe führe zu einer Volksverdummung, ist deshalb mehr als fragwürdig – und unnötig provozierend.

Was soll ein Ökonom daraus verstehen, wenn er per se dem Buch glaubt?
Und noch ein Beispiel, aus dem Interview mit dem anerkannten Hirnforscher Michel Friedman (Link):

Die Hirnforschung weist nach, dass die meisten jugendlichen Wiederholungsgewalttäter in ihrer frühesten Kindheit lang anhaltende Gewalterfahrungen gemacht haben. Dies wird unwiderruflich im Gehirn gespeichert. Zusätzlich haben sie einen unterdurchschnittlichen Serotoninspiegel – ein Stoff, der bei Angstgefühlen eine große Rolle spielt. Aggressives Auftreten ist oft Folge einer biochemisch hervorgerufenen Wahrnehmung von Unterlegenheit. Darauf reagieren diese Jugendlichen so, wie sie es von Kindesbeinen an gelernt haben: Sie schlagen zu. Mit der hehren Vorstellung von einem menschlichen Willen, der sich frei für das Gute und gegen das Böse entscheiden könne, kommen Sie da nicht mehr viel weiter. Unser ach, so großartiges Bewusstsein ist nichts anderes als die nachträgliche Legitimation dessen, was biochemisch in unserem Hirn längst „entschieden“ ist.

Insofern würde ich Ruhe empfehlen und nicht von den Dingen reden, von denen man sowieso nicht viel versteht:
And don’t stuff up your head with things you don’t understand.“ („Drei in einem Boot“)