…wenn es um die Juden geht, kann ein Sommerloch keine genügende Erklärung sein. Alte und neue Ressentiments kriechen aus allen Löchern. Kein Ende in Sicht. Sehr bezeichnend für die laufende Debatte ist es, dass die Stimmen dafür und dagegen quer durch die üblichen Rechts- und Links-Lager liegen. Zuerst war die Zahl 56% bei den Umfragen, einen Monat später immerhin reduzierte sich diese Zahl auf 46 %. Auch diese Zahl ist noch viel zu groß. Es sind nicht alles judenfeindlich gesinnte Menschen, klar. Es sind aber alles Menschen, die es zulassen, dass die antisemitische Stimmung sich verbreitet und offen ausgetragen wird. Kein Gauck, kaum Stimmen aus der Intelligenzia melden sich zu Wort, nur einmal Merkel mit einer „Komiker-Nation“-kalten Dusche. Dieser Witz bringt viele erst recht auf die Palme. Kein Ende in Sicht.
Bei der Neuen Rechten Stimme, in der „Jungen Freiheit“, die ich normalerweise nicht verlinke und nicht zitiere, wird das Thema zweimal groß behandelt. Hier muss ich annehmen, dass Birgit Kelle denselben Text bei „The European“ und bei JF publiziert hat, fast am selben Tage sogar und ohne Hinweis darauf. Zu dieser Zusammenarbeit sollte man ihr nicht unbedingt gratulieren, aber da muss Birgit Kelle selbst wissen, was sie da tut. Sie verteidigt das Recht auf die religiös motivierte Beschneidung, was bei „The European“ eine aufgeregte Diskussion mit (bis heute) stolzen 135 Kommentaren auslöst. Ein Alexander Wallasch versteht
ehrlich nicht, wie sich überhaupt jemand für eine Beschneidung aussprechen kann: So ein vorsinnflutlicher Schwachsinn und den dann auch noch medizinisch zu argumentieren empfinde ich – sorry – als echte Frechheit. So als würde es sich bei der Vorhaut um einen Weisheitszahn oder so etwas handeln. Hallo? Geht’s noch?
[…] was bitteschön maßen sie sich als Frau an, hier Fürsprecher für Beschneidungen spielen zu wollen?
In der Antwort darauf bringt Birgit Kelle ihre Argumentation auf den Punkt:
Inwieweit dürfen Eltern – ganz egal aus welcher Motivation – über körperliche Eingriffe bei ihren Kindern entscheiden, die in der Regel weitreichende Konsequenzen haben. Gleiches gilt für unterlassene Handlungen der Eltern, die ebenfalls die Gesundheit und die körperliche Unversehrtheit der Kinder betreffen.
Und hier muss man mal völlig losgelöst von Religion und Tradition nüchtern feststellen, dass wir in unserer Gesellschaft sehr viele Eingriffe dulden bis hin zur Entscheidung über Leben und Tod. Wenn wir das Fass also aufmachen wollen und Sie sich gegen Beschneidung aussprechen und es richtig finden, dass dies unter Strafe stehen soll, dann dürfen Sie im Gegenzug auch nicht die Augen vor all den anderen Dingen verschließen. Entweder wir machen das Fass ganz auf, oder wir lassen es zu. Hier aber selektiv einen Tatbestand heraus zu greifen, einfach nur, weil es um Religion geht, ist rechtlich willkürlich.
Alexander Wallasch kommt dann erst richtig in die Fahrt:
Schauen Sie mal auf die einschlägigen Piercing-Seiten. Was Frauen da zu tausenden freiwillig mit diversen Teilen ihrer Vagina anstellen möchte man nie live erleben.
Um seine Haltung deutlicher zu untermauern, bringt der gute Mann auf seiner eigenen Seite eine Menge Wutausbrüche gegen die Beschneidung mit Fotos illustriert zusammen, die einen optischen Druck auf die Leserschaft machen sollen. Was er also bei Frauen nicht live erleben möchte, mutet er seinen Lesern gern zu, sehr konsequent. Eine drastische „Argumentation“, aber eine andere gibt es nicht, wenn man gegen die Juden hetzt (die Kombination des Textes, der „zur Versachlichung und Entschärfung“ beitragen will, und der urologisch entstammenden Fotos macht das klar). Dafür muss allerdings ein Beitrag von RA Heinrich Schmitz geholt werden, der dem Ganzen noch eine juristische Autentizität verleihen soll (in etwa so, wie schon hier gezeigt wurde). Alexander Wallasch kommentiert nicht ohne Hinweis auf den Artikel über seine bescheidene Wenigkeit bei der Wikipedia in einem etwas aufgeregten Deutsch:
Ich verbiete mir übrigens jede Pro-Beschneidungshaltung von Frauen. Die haben dagegen zu sein, oder sich gefälligst rauszuhalten. INkl. Frau Merkel.
Zurück zur JF. Der Artikel von Birgit Kelle ist nur in der Druckausgabe vom 6.7.2012 zu lesen, auf der Seite 2. Der andere Artikel – von Baal Müller – ist online, mit üblichem Wortmüll und der Hetze gegen den Staat, die Regierung sowie „jüdische und muslimische Lobby-Verbände“, mit dem Gruß an die Linke Partei etc. Baal Müller ist sogar netter und süffisanter als Alexander Wallasch:
Die Markierung einer lebenslangen Zugehörigkeit ist ja gerade der Sinn einer irreversiblen, wenn auch physiologisch harmlosen Amputation. Die psychischen Folgen mögen gravierender sein, lassen sich aber schwer nachweisen.
Wie liest sich der Artikel von Birgit Kelle im Kontext dieser Auslassungen? Wie immer bei der JF – als der Beweis der Offenheit und demokratischer Gesinnungsbreite. Kommentatoren sind zufrieden:
[…] die Kolumne von Frau Kelle […] dient der Meinungsbildung im wahren und positiven Sinne. Der Wahrheitsfindung.
Auch Baal Müller macht kein Geheimnis daraus, daß er nicht an ein bleibendes Verbot glaubt.
Ihn stört, wenn ich ihn richtig verstanden habe, zu recht, daß wieder einmal demokratische Regeln gebrochen, die Republik verraten wird.
Und weiter in dem typischen JF-Stil. In einer ähnlichen Form beteiligt sich die Zeitschrift der Neuen Rechten „Sezession“ (im Netz) an der Beschneidungsdebatte. Mit solchen Blüten wie (Martin Böcker):
Die Probleme der Umvolkung, Entchristianisierung und Entortung können nicht mit dem Verbot der Beschneidung gelöst werden und sollten daher nicht als Argument dafür verwendet werden.
Oder im Bezug auf die jüdische Kritik der Debatte:
Das ist mehr als eine Skurrilität: es ist ein schlagendes Beispiel für die identitätsbildende, mythische, erstaunlich hartnäckige Kraft des jüdisch-messianisch-biblischen Narrativs, die in einem gewissen Sinne auch dieselbe ist, die das Abendland über zwei Jahrtausende lang, bis auf den heutigen Tag, in Gang gehalten, ja zu einem erheblichen Grade erschaffen hat.
[…] Diese Entschlossenheit, die Fundamente der eigenen Identität nicht zur Disposition zu stellen, und sei es um den Preis eines irrationalen Beharrens, ist genau das, was den Deutschen abhanden gekommen ist.
Na, das hat Martin Lichtmesz mit Brauvour hinbekommen!
Es lohnt sich jetzt auf dem anderen Ende des politischen Horizonts zu lesen, und zwar bei der „Jungle World“. Im Blog der linken Wochenzeitung schreibt zum Thema Beschneidung Thomas von der Osten-Sacken, und zwar ziemlich aufgeregt. Er belehrt die Rabbiner (Link):
[…] wer argumentiert, ein solcherart verstandenes Recht auf religiöse Selbstbestimmung (Heine, Büchner, Börne, von Feuerbach gar nicht zu sprechen, drehen sich im Grabe um) müsse als oberstes Rechtsgut behandelt werden, öffnet eine Büchse der Pandora, die zu schließen absehbar nicht mehr möglich sein wird.
Und die SPD für die Unterstützung der Rabbiner:
Für so eine Äußerung hätte man unter August Bebel in Sekundenbruchteilen sein Parteibuch verloren.
Er empfiehlt „71 verschiedene wissenschaftliche Werke“ zu lesen, „die sich mit negativen Folgen männlicher Beschneidung befassen.“
Wer danach ähnlich fundiert darlegen kann, dass all diese Untersuchungen Scharlatenerei sind oder aus völlig marginalen Publikationen stammen, kann guten Gewissens weiter die Position vertreten, Beschneidung habe niemals oder nur in zu vernachlässigend wenigen Fällen nachteilige gesundheitlichen oder psychischen Folgen für den Betroffenen.
Thomas von der Osten-Sacken kommt schnell weiter:
[…] selbst wenn Beschneidung nur in späteren Jahren negative Folgen zeitigen kann, mussten die Richter in Köln so entscheiden, wie sie entschieden haben. Jede Kritik an diesem Urteil wäre dann unlauter und populistisch.
Sollten, und vieles deutet darauf hin, die Mehrzahl der Juden in Deutschland weiter auf Beschneidung bestehen, ließe sich eine vorläufige Lösung finden, die sich etwa am Abtreibungsrecht orientiert, d. h. der Eingriff gilt zwar als illegal wird aber zugelassen.
Weiter zitiert er die Republikaner und es wird ihm bange:
Allerspätestens diese Erklärung der Republikaner also sollte als Alarmzeichen gesehen werden, wie falsch diese Debatte geführt wird und was auf dem Spiel steht.
Er meint hier nicht sich selbst, sondern die Befürworter der Beschneidung! Die machen das falsch. Kommentatoren verstehen den Wink sofort:
Die Idee, dass die Beschneidung illegal sei, aber zugelassen werde. Wo sind denn plötzlich die 71 Gründe, die dagegen sprechen? Jedem von uns ist klar, dass beispielsweise die Klitorektomie eine lebenslange Verstümmelung, ein Instrument der Unterdrückung von Frauen, weiblicher Sexualität und deren Selbstbestimmung mit nicht nur gesundheitlichen und psychischen, sondern auch sozialen Folgen ist – und nicht revidierbar. Die Beschneidung an Jungen, das darf gemutmaßt werden, hat ähnlich eingreifende Folgen – und ist ebenfalls nicht revidierbar. Sie müsste zumindest so lange ausgesetzt werden, bis die Langzeitstudie, die hier vorgeschlagen wird, durchgeführt und ausgewertet wurde. Und dann kann man weitersehen. Was aber auch bedeuten würde: Ein bis zwei Generationen gefährdeter Kinder, denen eine Genitalverstümmelung drohen würde, haben erst mal Ruhe und dürften ihre Vorhaut behalten.
Thomas von der Osten-Sacken widerspricht dem Unfug nicht. Dagegen bekommt er voll die Angst, wenn er Dirk Pilz, Patrick Bahners liest und über die Umwege mitkriegt, dass auch noch Matthias Matussek jetzt dazu kommt. Er sieht schon die Gefahr, dass da (Link)
Kleriker aller Weltreligionen sitzen und Gesetze fortan auf ihre Vereinbarkeit mit der Religion überprüfen.
Zum Glück wird in der Zeitung selbst das Gegenteil von dieser Angstmacherei publiziert, und zwar ein wirklich ausgeglichener und vernünftiger Text. Der Artikel von Alexander Hasgall mit dem Titel „Die Kriminalisierung des Judentums“ gehört mit zu dem Besten, was zum Thema in diesen Wochen gesagt wurde. Sehr gut!
Mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit scheint eine unangreifbare Begründung gefunden worden zu sein, die »Schonzeit« für Juden für beendet zu erklären. Es gibt in Deutschland offenbar kein größeres Problem als das Recht kleiner Jungen, keine Juden (und Muslime) sein zu müssen. In der »Beschneidungsdebatte« bricht eine antisemitische Rhetorik durch, die man eher bei Rechtsextremen und Islamisten verortet. Den bisherigen Tiefpunkt bildet eine Karikatur auf der Website des Boulevardblatts Berliner Kurier, die im Stürmerstil einen krummnasigen Juden zeigt, der einem Jungen den Penis abschneidet.
[…] Die Beschneidung am achten Lebenstag ist ein zentraler Aspekt der jüdischen Identität. Es ist nicht vorstellbar, dass ausgerechnet Deutsche hier plötzlich eine Praxisänderung erzwingen könnten. Ein Beschneidungsverbot wäre das Ende eines guten Teiles des jüdischen Lebens in Deutschland. Wer ernsthaft ein Verbot der rituellen Beschneidung fordert, muss bereit sein, offen die Verantwortung für dessen Konsequenz zu übernehmen. […] Grundsätzlich ist jede Operation ein Eingriff in die körperliche Integrität einer Person. Dabei ist es egal, ob einem Kind die abstehenden Ohren angepasst werden, ein Muttermal aufgehellt oder die Vorhaut des Penis entfernt wird. Hier manifestieren sich gesellschaftliche Normen. Bei der Beschneidung geht es um die Norm einer Minderheit, erst dies führte zur Debatte. […] Ivo Bozic hat in seinem Beitrag im Jungle Blog dargestellt, dass Studien, welche die Schädlichkeit der Beschneidung nachweisen, oft von zweifelhafter Motivation und zuweilen auch wissenschaftlich problematisch sind. Sicher gibt es bei einer Milliarde betroffener Männer weltweit auch einige, bei denen die Beschneidung, wie andere Ereignisse im Leben auch, körperliche oder psychische Komplikationen zur Folge hatte, aber dass dies Ausnahmen sind, ist offensichtlich.
Den Kölner Richtern ging es nicht alleine um körperliche Unversehrtheit, sondern auch um das Recht des Kindes, später frei über seine Religionsausübung zu entscheiden. Dieser Freiheitsbegriff ist zutiefst christlich. Während im Judentum Abstammung und nach außen gerichtete Praxis die zentralen Elementen des Glaubens sind, konzentrierte sich das Christentum von Anfang an auf das innere Bekenntnis – und dabei auf die Missionierung. […] Wer glaubt, zwischen dem Judentum und seinen zentralen Traditionen unterscheiden zu können, überträgt die eigene religiöse Sozialisierung auf andere. Und wer in einer christlich dominierten Gesellschaft Judentum und Islam auf Augenhöhe begegnen will, kann deren weithin anerkannte religiöse Praxis nicht ernsthaft mit Genitalverstümmelung an Frauen und der Einführung von Steinigungen gleichsetzen.
Juden sollten sich nicht ausgerechnet von Deutschen ihre angebliche Unzivilisiertheit vorhalten lassen müssen. Es ist nicht Aufgabe der deutschen Öffentlichkeit und Politik, dem Judentum gute Ratschläge zu geben, wie es sich reformieren sollte. Genauso wenig wie krampfhaft im vielfältigen jüdischen Leben der Gegenwart nach jenen Strömungen zu suchen, die dem eigenen Weltbild und Religionsverständnis am nächsten kommen. Daher hilft es auch nicht, anonyme Gruppen wie »Jews Against Circumcision« oder rituelle Alternativen zur Beschneidung wie Namensgebungsrituale ins Feld zu führen. Wer Antizionisten dafür kritisiert, dass sie Juden instrumentalisieren, um sich unangreifbar zu machen, sollte im Hinblick auf die Beschneidung nicht auf dieselbe Art verfahren.
Es gibt keine »unproblematische« Beschneidungskritik. Es ist nachvollziehbar, dass jemand Mühe mit dem Verständnis eines Rituals wie der Beschneidung hat. Die nachträgliche Rationalisierung des Rituals wie der Hinweis auf hygienische Vorteile der Beschneidung hilft hier nicht weiter. Das Unbehagen an der Beschneidung macht niemanden zu einem Antisemiten. Dieses Unbehagen gilt es aber auszuhalten. Faule Kompromisse, wie die gesetzliche Gleichsetzung von Schwangerschaftsabbruch und Beschneidung, wie von Hannah Wettig gefordert (Jungle World 29/2012), bringen die Debatte nicht weiter. Dies würde bedeuteten, das Initiationsritual in Judentum und Islam mit der Abtreibung eines Embryos gleichzustellen. Die Botschaft an die Eltern wäre: Ihr schadet euren Kindern, aber wir erlauben es euch. Dasselbe gilt für die Forderung, die Beschneidung auf Krankenhäuser und Arztpraxen zu beschränken, was einer Kriminalisierung der bisherigen Praxis gleichkommt. Hier gilt es, Stellung zu beziehen. Dabei sollte eine Forderung im Zentrum stehen: für das Recht von Juden und Muslimen, die Beschneidung nach eigenen, traditionellen Regeln weiter zu praktizieren. Auch angesichts der weltweiten Akzeptanz der Beschneidung gilt: Einen deutschen Sonderweg – gerade bei diesem Thema – darf es nicht geben.
25 Kommentare (bis jetzt) zeigen, wie verwirrend dieser Text auf die Leserschaft wirkt, kaum einer versteht den Autor.
Im „Spiegel“-Beitrag von Gunda Trepp heißt es (Link):
Im letzten Jahr mussten im Durchschnitt jede Woche fast drei Kinder in Deutschland sterben, weil sich niemand um sie gekümmert hat oder sie direkter Gewalt ausgesetzt waren. Der sexuelle Missbrauch von Minderjährigen hat um fast fünf Prozent zugenommen. Als diese Zahlen im Mai herauskamen, haben sich nur wenige Kommentatoren für das Wohl dieser Kinder interessiert. Warum haben nun alle etwas zur Beschneidung zu sagen? Mit 45 Prozent lehnt nahezu die Hälfte der Deutschen eine Beschneidung aus religiösen Gründen ab. Auch aus Gründen des Kinderschutzes. Merkwürdig.
Im „Lindwurm“-Blog wird dasselbe geradeaus und wieder mit großer Empörung ausgesprochen (Link):
Pogromstimmung wabert durch die Zeitungen. Die unselige “Beschneidungsdebatte” lässt alle Dämme brechen und lockt die niederträchtigsten Antisemiten aus ihren Höhlen.
Er zitiert aus den Kommentaren in den österreichischen Zeitungen, brr.
Der Verband der deutschen Journalistinnen sieht dagegen in der Sache nur das Sommerloch, womit wir wieder da sind, wo wir angefangen haben. Die Damen wünschen sich mehr Beiträge, die „federleicht und witzig“ das Thema anschneiden.
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