Sendungsbewusstsein

Kritische Auseinandersetzung mit den Medien

Amos Oz: Ein Interview Donnerstag, 25. August 2005

In der „Zeit“ vom 25.08.2005 bringt Gisela Dachs ein inhaltsreiches Gespräch mit dem Schriftsteller Amos Oz zustande.

Seine Meinung korrespondiert mit der von Dan Bar-On:

Der Nazivölkermord an den Juden ist eine Erfahrung, die Juden und Deutsche teilen, wenn auch in entgegengesetzten Rollen. Es besteht eine Art Intimität wie zwischen einem Vergewaltiger und einer Vergewaltigten. Sechzig Jahre später leiden Juden in Israel und woanders immer noch unter den Konsequenzen, die Deutschen hingegen überhaupt nicht. Darauf haben wir möglicherweise gar keinen Einfluss. Das Opfer, das im Rollstuhl sitzt, bleibt darin gefesselt. Und der Kriminelle, der ein paar Jahre im Gefängnis zugebracht hat, führt nach seiner Freilassung wieder ein normales Leben. Das ist so – trotz aller Unterschiede – bei allen Verbrechen. Ich kann nicht einmal mit dem Finger zeigen und sagen, der oder der trägt daran die Schuld. Aber die Tatsache muss wenigstens erwähnt werden. Die Kinder und Enkel der Opfer sitzen immer noch in emotionalen Rollstühlen. Die Kinder und Enkel der Verbrecher sind nicht schuldig an irgendetwas, aber sie sind nicht an einen Rollstuhl gefesselt. Ich will auch gar nicht, dass sie dort sitzen. Ich möchte bloß, dass sie uns in Erinnerung behalten.

Und weiter:

Es ist manchmal schon fast zwanghaft, wie sehr sich die Menschen in Europa für den Frieden im Nahen Osten interessieren. Es gibt solche, die glauben, dass Frieden eine emotionale Angelegenheit ist. Etwas zwischen Gruppentherapie und Familienberatung. Such dir einen guten Therapeuten, und die Ehe wird wieder funktionieren. Geh zu einer Gruppentherapie, und jeder wird sich mitteilen und dann den anderen in Tränen umarmen. Das ist aber kindisch. In Beziehungen, nicht nur zwischen Ländern und Nationen, sondern auch zwischen Individuen, ist manchmal das Beste, was man kriegen kann, eine Koexistenz mit punktuellen Zusammenstößen. Universelle Liebe ist zu viel verlangt, da unterscheidet sich meine Auffassung von den Forderungen meines Landsmannes Jesus. Es reicht schon, dass man nebeneinander leben kann, auch wenn man den Nachbarn nicht leiden mag oder eine große Wut auf ihn hat. Solange es nicht gewaltsam zugeht, ist dies gut genug.

 

Frivole Gaskammer-Metaphern? Sonntag, 14. August 2005

Filed under: Film,Medien — peet @ 19:52 Uhr
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Seit dem 4.August läuft „Die Insel“ (2005, „The Island“) in deutschen Kinos. Offensichtlich eine große Herausforderung für die Kritik. Meinungen des Publikums und der Journalisten ergänzen sich auf eine ganz eigenartige Art und Weise: Die meisten Kritiker – so Andreas Kilb (FAZ), Daniel Kothenschulte (Frankfurter Rundschau), David Kleingers (Spiegel), Philipp Bühler (TAZ), Ulrich Kriest (Stuttgarter Zeitung) u.a. – finden den Film schlecht, die meisten Zuschauer in Internetforen dagegen gut. Was nun?

Dem Regisseur Michael Bay wird vorgeworfen, anspruchslos zu sein („zum reinen Action-Thriller absinkt“). So gut wie alle Autoren beklagen „das übertriebene Product-Placement“. Viele vergleichen „Die Insel“ mit dem Film „Flucht ins 23. Jahrhundert“, welcher „verkam ebenfalls zum bloßen Verfolgungsspektakel“, fast alle halten „Materialvernichtung“ („Materialschlachten“) für das eigentliche Thema des Films und des Regisseurs. Insgesamt „Kakophonie des Lärms“ (Matthias Grimm, schnitt.de).

Das Schwäbische Tagblatt (Klaus-Peter Eichele) geht noch weiter und entdeckt in Michael Bay sogar die Zielscheibe für eine politische Kritik auf höchster Ebene: „Mit seiner Klon-Krittelei liegt er vielmehr wieder einmal ganz auf der Linie von George W. Bush.“ Genauso die TAZ (Philipp Bühler): „Die tiefe Wahrheit und ganz banale Enttäuschung solcher Gigaproduktionen liegt in ihrem selbsterklärenden Moment. Sie liefern nicht mehr als Affirmationen der Zustände, die sie vorgeblich kritisieren. Mit manipulierten Materialwelten, in denen man den Figuren gerade so viel Charakter zugesteht, wie es die Konstruktion erlaubt – oder, wie vielleicht in diesem Fall, der gerade aktuelle Standpunkt des US-Präsidenten in der Stammzellendebatte. Schade ist es dabei um die, die man noch immer für die Guten halten will.“

Das klingt sehr klug, nur hat leider mit dem Film wenig zu tun. Dass der Umgang mit dem Klonen, mit der Einmischung in die Natur, mit dem Sterben, mit der Genetik, wenn sie als Eugenik verstanden wird, eine höchst aktuelle, moralisch und emotional keinesfalls eindimensionale Diskussion ist, dürften Kritiker wissen. Dass im Film nichts von der evangelikalen Haltung des aktuellen amerikanischen Präsidenten spürbar ist, brauche ich nicht länger anzusprechen. Es sieht somit ziemlich primitiv aus, was wir da lesen, – nach dem Motto, wenn der Film die Klon-Debatte nicht eindeutig anders als der Bush-Junior sieht, dann ist er auf seiner Linie, und ist zu verdammen. Tja…

Der „Tagesspiegel“-Kritiker Sebastian Handke findet wenigstens treffende Vorbilder und stellt auch kongruente Fragen: „Denn der zugrunde liegende futuristische Albtraum ist beklemmend erdacht und in Szene gesetzt – als hätte Michael Crichton an einem verregneten Spätnachmittag Paranoia-Klassiker wie „Coma“ und „Logan’s Run“ verquirlt und vom Clip-Regisseur Chris Cunningham aufbereiten lassen. Dessen einzigartige Fähigkeit, digital geschliffenen Bildern eine Art hygienischen Horror zu entlocken, wird von Bay, Produktionsdesigner Nigel Phelps („Troja“) und dem Effektmeister Eric Brevig („The Day After Tomorrow“) zwar nicht erreicht, aber gut kopiert. Auch die beiden Hauptdarsteller sind sehr gut besetzt. Sie bekommen nur leider keine Gelegenheit, das existenzielle Drama auch auszutragen.“ Ob der Film eine Kopie ist, ob es sehr gute Schauspieler sind, darüber lässt sich streiten. Es ist aber die kritische Meinung, die dem Film gebührend, aus dem Film erkennbar ist.

In der Reihe der Antiutopien findet „Die Insel“ ihren Platz, neben Orwells „1984“, Bradburys „Fahrenheit“, die in bekannten meisterhaften Verfilmungen zum seriösen Film gehören. Es gibt auch die Action-Variante, mit „Matrix“ an der Spitze, wo Verfolgungsjagden und die Rettung der Helden sowie der Welt zum Spektakel aufgekurbelt werden und aus der Tradition der Abenteuerliteratur kommen. Logische Ungereimtheiten solcher Romane oder Filme stören Leser oder Zuschauer am geringsten, egal was die Kritik dazu meint. Warum also ein schlechter Problemfilm höher eingestuft werden sollte als ein guter Thriller, bleibt ein Rätsel, bei dem wir uns nicht länger aufhalten wollen.

Besonders tief wird der Regisseur von der Filmkritikerin Anke Westphal („Berliner Zeitung„) durchschaut:

„Denn auch die – klar: gesellschaftskritisch gemeinte – Klon-Selbstfindungsgeschichte ist nicht wirklich wichtig. Da fragt man sich natürlich, ob überhaupt etwas wichtig ist in diesem Film? Nun, wir können diese Frage mit einem ehrlichen Ja beantworten: Wirklich wichtig sind hier natürlich das falsche humanitäre Pathos und die Verfolgungsjagden, denn „Die Insel“ ist nicht nur grottenwiderlich in seinen frivolen Gaskammer-Metaphern – es ist ja auch ein Film von Michael Bay (u.a. „The Rock“, „Armageddon“, „Pearl Harbor“), und in den Filmen von Michael Bay wird grundsätzlich ganz doll schnell gefahren, zu tollkühn geflogen und in jedem Fall sehr, sehr viel kaputt gemacht.“

Nehmen wir zuerst die Gegenüberstellung von Klonen und Menschen in der Kritik. Schauspieler Ewan Mac-Gregor (im Interview mit Skip.at) und Scarlett Johannson (im Interview mit der Zeitung „Die Welt“: Die Frage – „Der Film handelt vom menschlichen Klonen. Haben Sie sich jemals gewünscht, einen Klon zu haben?“. Die Antwort – „Ich würde sie selbstsüchtig zu meiner eigenen Kontrolle nutzen.“) genauso wie Kritiker unterscheiden folgenschwer zwischen Klonen und Menschen.

Böse Menschen wollen Klone nur als Ersatzteile für Reiche zuerst erschaffen und dann ausschlachten. Gute Klone kämpfen um ihr Recht zu leben, bekommen von keinem Menschen eine Unterstützung. Der andere witzige Filmwissenschaftler Sascha Keilholz (Webseite critic.de) kommt zum Beispiel auf die sozialkritische Idee: „Wenn sich gegen Ende des Films die Frage Klon oder Mensch stellt, weiß der Zuschauer, auf wessen Seite er sich zu stellen hat. So entwickelt dieser, wie jedes Science-Fiction-Werk, im Grunde zutiefst technisch-skeptizistische Film letztlich die These, der Klon sei ein besserer Mensch.“ Ulrich Kriest (Stuttgarter Zeitung): Klone „agieren längst wie (nette) Menschen.“ Am Rande wird da und hier noch vielleicht die halbherzige Hilfe von einem Mitarbeiter der schrecklichen Fabrik (Steve Buscemi) erwähnt, und fast in keiner Kritik wird die Umorientierung von dem Chefkiller (Djimon Hounsou) bedacht, der am Ende des Films Klone rettet.

Im Gegensatz zu diesen Meinungen bestehe ich darauf, daß der Zuschauer Schritt für Schritt durch die Gedankenkette im Film geführt wird – bis zur Erkenntnis: Alle Wesen sind hier menschlich, ganz entgegen den Behauptungen des bösen Wissenschaftlers (Sean Bean). Kritiker merken das nicht und verlassen sich auf seine Erklärungen genau wie seine Kunden im Film, mit dem Resultat nämlich, daß hier Klone gegen Menschen ausgespielt werden. Der Film kämpft gegen die inhumane Art mit Menschen umzugehen, das wird ihm selbst nun unterstellt.

Nach meiner Meinung sind Klone im Film auch Menschen. Sobald sie um ihre Existenz kämpfen müssen, werden sie genauso brutal und verlogen wie böse Menschen in der Welt des Films. Sie müssen das erlernen. Die Unterstützung finden sie zuletzt bei dem schon erwähnten ehemaligen afrikanischen Rebellen, der es nicht ertragen kann, daß einem Menschen ein Tawro eingebrannt wird. Dass das alles für die Kritikerin „nicht wirklich wichtig“ ist, macht den zitierten Artikel noch nicht besonders. Da ist die gesamte Gilde überfordert, die meist nur über die Einnahmen zu schreiben weiß.

Daß die Kritikerin diese durchaus problematisierende Perspektive der Story nicht einsieht („das falsche humanitäre [!] Pathos“), wäre auch nicht so schlimm, wäre sie bei der Verurteilung von Verfolgungsjagden geblieben – das tun so gut wie alle hochsensibilisierte Autoren, die offensichtlich ein Problem mit Action-Filmen haben.

Schlimm wird es, wenn die Autorin von „frivolen Gaskammer-Metaphern“ redet. Im Film wird gemordet und getötet, auf verschiedenste Weise. Das Töten sticht ins Auge, so daß es weh tut. Keine Kritik, keine einzige erwähnt dies! Es wird von den kaputtgemachten Fahrzeugen, von Materialverlusten schöngeredet, das sei ästethisch zu verpönen. Daß dabei sehr viele Menschen meist sadistisch umgebracht werden, wird nicht mal beim Namen genannt, nicht mal aufgelistet. Und das sind alles Autoren, die Michael Moores Pamphlete gerne gesehen haben, sich als sozialkritisch sehen und gegen das Amerika G.W.Bushs bezüglich dieses Films aufmucken – selbstverständlich wegen dem „falschen humanitären Pathos“, wie oben zitiert. Die ausgeblendete, eben keine, nicht mehr vorhandene Toleranzgrenze, die selbst erteilte Erlaubnis, die gewalttätigen Tötungen – ein ästethisch falsches – inhumanes! – Mittel – einzusetzen, mit ihnen eine humane Wirkung erzielen zu wollen – das ist hier ein Problem, ein Problem nicht von Michael Bay allein, sondern des amerikanischen Films, unter anderem von Michael Moore bekannterweise groß ausgesprochen. In diesem Sinne ist „Die Insel“ beispielhaft in ihrer Widersprüchlichkeit! Der Film ist den 13-jährigen zugänglich und kein Horror für Freaks, das wollen wir dabei nicht vergessen.

Traurig, daß nur eine spezielle Tötungsmethode eine hilflose reflexartige Empörung der deutschsprachigen Kritik hervorruft, nicht der Angriff auf die gewohnte Bildästethik selbst im Umgang mit der Darstellung des Tötens.

Ich hätte es verstanden, wenn die Autorin die Gaskammerszene nur widerlich gefunden hätte, genauso widerlich wie jede andere betont brutale Darstellung der Tötung im Film. Warum aber frivol? Findet sie denn widerliche Sachen frivol?

Ähnlich geht Peter Zander in der Zeitung „Morgenpost“ auf die Suche nach NS-Bildern. Er entdeckt im Film „immer wieder Parallelen zu einem Konzentrationslager, wenn beispielsweise den Klonen eine Nummer auf den Unterarm tätowiert wird. Und reizt fast bis zum Ende aus, was selbst Spielberg in „Schindlers Liste“ nicht wagte: daß der Zuschauer mit den Opfern in eine Art Gaskammer eingesperrt wird. Die „Endlösung“ für den guten Geschmack.“ Die Zeitung „Der Standard“ spricht genauso „von einer in ihrer narrativen Funktionalität fragwürdigen Bezugnahme auf den Nationalsozialismus“ (Isabella Reicher). Auch „Die Presse“ ist sich sicher: „Spätestens, als die Klon-Baureihe, der der Flüchtling angehört, als „infiziertes Produkt“ „zurückgerufen“ wird und Säcke voll halbgarem Slime vernichtet sowie die bereits ausgewachsenen Klone in eine Art Gaskammer geführt werden, wird einem klar, wie grenzenlos naiv Bay sein Thema verschenkt.“

Ähnlich wie im Zitat oben sehe ich hier die Verschiebung der Perspektive. „Die Insel“ erzählt eine Antiutopie und ist keine Verarbeitung der NS-Zeit. Dem Regisseur ist es wichtig, zum Beispiel, zu zeigen, Schwarzafrika mit seiner Trommelmusik rettet die Welt, wenn ich dies auch für einen nicht besonders tiefsinnigen Witz halte. Die Tatowierung aber ist hier ein Tawro, nichts anderes. Die Gaskammer ist „nur“ eine von vielen anderen Tötungsmethoden im Film, eine Steigerung in der unfassbaren Logik der Entmenschlichung. Die Tötung in der Gaskammer wird im Film ausserdem verhindert, der Alptraum geht hier zu Ende. Was ist daran naiv?!

Die Kritiker sehen nur das, was ihnen ihre Phantasie zuspielt, nicht die Sprache der Bilder. Ist denn „1984“ für sie auch ein Buch/ein Film über die NS-Zeit? Was soll an einem „humanitären Pathos“ falsch sein?

Erstaunlicherweise kommen nur deutsche und österreichische Journalisten (wohlgemerkt nicht alle!) auf dieses Thema, als hätte Michael Bay den Film für deutsche und österreichische Gedächtnisspezialisten konzipiert. Warum nur?.. Hmm…

 

Die meisten Deutschen? Dienstag, 2. August 2005

Filed under: Deutschland,Medien,Politik — peet @ 11:32 Uhr
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Richard Herzinger behandelt in seinem Weblog eine typische Unfähigkeit der Politiker mit Vergangenheitsvergleichen umzugehen. Er geht von einem aktuellen Beispiel (SPD-Politiker Stiegler: „Arbeit macht frei“-Vergleich) aus und erinnert die Leserschaft an mehrere ähnliche Ausrutscher, die so regelmäßig und so „paritätisch auf alle Lager verteilt“ sind, daß man sie „unmöglich als blosse Verirrung betrachten kann.“
Sein Fazit: „Naziverdächtig ist immer nur der unliebsame Kontrahent. Nach diesem Muster haben die Deutschen ja schließlich in den vergangenen sechzig Jahren erfolgreich ihre Vergangenheit bewältigt: Die Nazis waren ganz furchtbar, darüber waren sich jetzt fast alle einig. Nur waren die Nazis eben die anderen.“

Der Text Herzingers steht nicht nur in seinem Weblog, sondern (ursprünglich) in der Zeitung „Jüdische Allgemeine“. Dabei ist der Autor der Deutschland-Korrespondent der Züricher Weltwoche.

Es beginnt mit einzelnen Politikern, die sich in ihren Äußerungen auf dem Stammtischniveau bewegen, dann werden die „meisten Deutschen“ kritisiert. Zuletzt seien „die Deutschen“ unfähig gewesen, ihre Vergangenheit zu bewältigen.
Und das in einer jüdischen Zeitung in Deutschland. Sollen Juden packen?
Warum nicht in der „Weltwoche“? Warum sieht der Korrespondent die Situation so schwarz, daß er ihre Beschreibung der „großen“ deutschen Presse nicht zumutet?
Und: Gibt es keine andersdenkenden Deutschen? Bekam der unsägliche „Untergang“-Film den höchsten deutschen Preis?
Wird hier möglicherweise nur skandalisiert? Sind heutige Deutsche in seinen Augen immer noch die Nazis von damals?
Hat der Korrespondent ein ausgewogeneres Bild gemalt als die von ihm kritisierten Politiker?