Sendungsbewusstsein

Kritische Auseinandersetzung mit den Medien

Beschnittener Optimismus Mittwoch, 15. August 2012

Die Debatte über die Beschneidung will kein Ende haben, grausig. Die TV-Talkshow bei Maischberger und das mediale Echo darauf will ich hier kurz zusammenfassen.

Die Sendung wurde von einer erfahrenen und im positiven Sinne neutral wirkenden Moderatorin gut geführt, alle Teilnehmer zeigten sich wie sie sind, es war leicht, eine eigene Meinung über Personen und Inhalte zu bilden. Eine bessere Arbeit als Anne Will hat Sandra Maischberger auf jeden Fall geleistet. Das ist der Pluspunkt. Ansonsten, wie mediale Reaktionen es zeigen, bleibt es weiterhin eine Schande, dass die deutsche Debatte so intolerant gegenüber der immer noch fremden und immer noch unbekannten Kultur geführt wird. Darin hat Dieter Graumann Recht: Die Debatte ist „viel schädlicher als alle Beschneidungen“. Mein Wort!

Unzählige meist antisemitische Kommentare sind die Folge. So bei der WAZ, wo nur eine dapd-Meldung publiziert wird, so auch bei der „Frankfurter Rundschau“, wo das Thema gleich zweimal am selben Tage angeschnitten wird. Bei der korrekten Besprechung der Sendung durch Torsten Wahl:

Einen großen Toleranztest nannte Zentralratschef Graumann abschließend die Diskussion – viel Toleranz haben die Befürworter der Beschneidung in dieser Sendung nicht erfahren.

So auch bei dem starken, fast schon kampflustigen Text von Christian Bommarius, der die klare Parallele zwischen dem „Stürmer“-Antisemitismus und der aktuellen Debatte aufdeckte:

Es ist natürlich schön, dass die Deutschen ihre Haltung zu den Menschenrechten derart modifiziert haben, dass sie heute glauben, den Juden darin Unterricht erteilen zu können.

Noch schöner wäre es, ihnen würde bewusst, wie lächerlich und beschämend ausgerechnet in Deutschland – als einziger Demokratie der Welt – ein Beschneidungsverbot wäre. Es wäre ein Triumph hochnäsiger Geschichtsvergessenheit.

Christian Geyer hat in der FAZ die Sendung zum Anlass genommen, die Religion per se zu verteidigen. Deswegen für ihn ist das

Eine lohnende Beschneidungsdebatte.

Weil es zeigen lässt, in Deutschland sei

ein präpotenter Ton gegenüber Gläubigen eingeschlichen, der sich selbst bloßstellt und dringend zurückgenommen werden sollte.

Negativ beurteilt die Sendung Tim Slagmann in der „Welt“, er macht kein Geheimnis aus seiner eigenen Position gegen die Beschneidung überhaupt:

Verbissen diskutierten die Gäste bei Maischberger – ohne sich Argumenten zu öffnen. […] Andererseits war es erstaunlich, wie sehr sich die Diskutanten in ihren je eigenen Aspekten verloren, um Kontrahenten dann umgekehrt vorzuwerfen, diese sähen das Wesentliche, Gesamte, Andere der Debatte nicht. Graumann etwa wiederholte, die Beschneidung sei das Fundament des jüdischen Glaubens. Seit Jahrtausenden, fertig, Punkt.

Die Mühe, diese Bedeutung zu erläutern, herzuleiten oder sie gar für eine historisch-kritische Lesart zu öffnen, machte Graumann sich nicht. Warum man die Heranwachsenden nicht selbst entscheiden lassen könnte, mit 16 oder 18 Jahren?

Necla Keleks Meinung fand Tim Slagmann dagegen „durchaus schlüssig“. Und er fand sich selbst mutig bei der Fragestellung, „ob da nicht wieder einmal gegen das Volk regiert werde.“

Noch mehr von der vox populi kann man bei einer Blogreaktion lernen, in der ein Jürgen Bakos es auf den Punkt willig bringt, worum es der gesunden Volksgemeinschaft geht, nämlich:

Warum sind Frau Maischberger und Frau Will nicht in der Lage, die entscheidende Frage zu stellen? Nämlich ob es die Beschneidungsfreunde einen Dreck interessiert, was das Volk des Landes, in dem sie leben, darüber denkt?

So schreibt er auch geradeheraus, was er bei Christian Bommarius vermisst, nämlich:

einen Willen der Gemeinschaft wenigstens in Betracht zu ziehen.

Eine bemerkenswerte Reaktion ist auch von einem türkischstämmigen Blogger Akın Ruhi Göztaş bei Turkishpress (Link) zu lesen. In einem dialektal gefärbten Deutsch wird hauptsächlich Necla Kelek fertig gemacht und Dieter Graumann gleichzeitig wohlwollend gelobt:

Der sogenannte Jude hat allen gezeigt, wie es geht. […]  diese können sich seit jeher sehr gut präsentieren.

Offensichtlich ohne Ironie gemeint. Das sind Blüten der Beschneidungsdebatte. Deutschland kann man dazu gratulieren. Auch zu den unsäglichen Beiträgen von Necla Kelek und Christa Müller in dieser Sendung. Man wird mehr und mehr zur „Komikernation“. Wie wahr!

 

Die ekeligsten Texte zugunsten von Guttenberg Freitag, 25. Februar 2011

…seien hier nur verlinkt, um sie später nicht zu vergessen.
Jan-Eric Peters am 20.2.2011 (Link):

Aber: Es ist eben auch keine Staatsaffäre. Denkt man in Ruhe über die bisher bekannten Fakten nach, wird klar: Guttenberg hat gegen die Regeln der Wissenschaft und des Fairplay verstoßen, er hat einen ernsten Fehler gemacht, peinlich noch dazu. Das könnte ihn den Doktortitel kosten und einiges an Glaubwürdigkeit und Sympathie.
Doch ein Rücktritt wäre falsch, vorausgesetzt, es kommen keine Verfehlungen hinzu. Das Feld, auf dem sich Guttenberg beweisen muss, ist die Verteidigungspolitik. Hier liegen unsere Probleme, hier wird seine Tatkraft auch in Zukunft gebraucht. Das hat nicht nur der Anschlag in Afghanistan gezeigt. Die Bundeswehr hat dramatische Nachwuchssorgen, Guttenbergs mutige Reform steht erst am Anfang, sie braucht seine Leidenschaft.
Ein Rücktritt des Ministers wäre aber nicht nur für die Bundeswehr und die Regierung ein schwerer Schlag. Er wäre auch ein Signal an andere hochbegabte und kantige junge Talente, es sich mit einem Einstieg in die Politik und ihre Untiefen besser noch einmal zu überlegen, und das wäre ein Verlust für das ganze Land.

Vera Lengsfeld am 23.2.2011 (Link):

Nein, zu Guttenberg stellte sich seinen Gegnern und machte wieder einmal eine gute Figur.
Er war demütig, charmant, ruhig und souverän. […] Zu Guttenberg hat den Mut gehabt, zuzugeben, dass er sich bei der Anfertigung seiner Dissertation maßlos überschätzt hat. Wenn er in den letzten Tagen gelernt haben sollte, in Zukunft vorsichtiger mit den Karrieren seiner Untergebenen umzugehen, weil er selbst in den Abgrund blicken musste, hat die Debatte sogar einen Kollateral- Nutzen gehabt.
Wie konnte zu Guttenberg die Hatz überstehen, wo sich doch fast der gesamte politisch-mediale Komplex einig war in dem Bestreben, ihn diesmal endgültig zu Fall zu bringen?
Zu Guttenberg ist nicht nur die Ausnahme unter den christdemokratischen Politikern, weil er nicht feige ist. Er hat auch davon profitiert, dass sich die ehemals schweigende Mehrheit zu artikulieren gelernt hat. Bild-Chef Kai Dieckmann war der erste unter den maßgeblichen Journalisten unseres Landes, der erkannte, dass die Causa Guttenberg eine ähnliche Diskrepanz zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung hervorbrachte, wie der Fall Sarazzin. Bild reagierte promt und verwies auf die Pro-Guttenberg-Plattform im Internet, die innerhalb weniger Tage hunderttausende Unterstützer des Verteidigungsministers vereinte.

Ulf Poschardt am 25.2.2011 (Link):

… je geschickter sich Guttenberg aus der Affäre zog, umso wütender und ungenauer wurden Angriffe und Kommentare. […] Die Anwürfe kamen zu spät, Guttenberg hatte sich entschuldigt, nach allerlei glanzvollen Rollen als strahlender Hoffnungsträger, genialischer Wirtschaftsminister und truppennaher Verteidigungsminister nun sein Rollenfach ins gedeckt Melancholische verlegt. In einer für Politiker denkbar unoriginellen Salamitaktik hatte der Katholik Guttenberg das Ausmaß seiner Sünde portioniert und dabei nicht an – wenn auch wohlklingender – Selbstkritik gespart, dass die moralischen Anwürfe an ihm abperlen mussten. Er definierte für sich das Ausmaß seiner Schuld, legte die Buße in Gestalt von gesenkten Blicke, ruhenden dann abgelegten Doktortiteln selbst fest und tat so, als wäre er fortan mit sich im Reinen. Dabei war er wohl eher mit seiner Performance im Reinen. […] Die Deutschen entwickeln gerade ein pragmatisches, ja realistisches Verhältnis zur Moral. Das dimmt jene fast zwanghafte Neigung zum Überkorrekten, die im Rest der Welt hinreichend belächelt wird. Werte erodieren dadurch nicht, sondern werden im Kontext von Biografie und Lebenswelt eingeordnet. In bester marxistischer Tradition werden Moral und Interessen zueinander in Beziehung gesetzt. So relativiert sich auch die Idee einer metaphysischen Transzendenz.

Die Moral muss zum Leben passen und nicht umgekehrt. […] Karl-Theodor zu Guttenberg ist ein interessanter Fall, weil er enorme Fähigkeiten und Talente besitzt, wie sie im politischen Betrieb nur äußerst selten anzutreffen sind, aber eben auch eine Reihe von Schwächen, die genauen Beobachtern schon vor den Affären aufgefallen sind. […] Dem CSU-Politiker ist aufgrund seiner intellektuellen wie sozialen Begabungen zuzutrauen, dass er aus den Schrammen und Niederlagen lernt. Die meisten Deutschen wünschen sich dies.

Das ist der Poschardt, von dem sogar in der Wikipedia steht, dieser habe “ gefälschte Interviews und Stories publiziert“. Es bleibt zu hoffen, dass Guttenberg auf dessen Lob besonders scharf ist :-)

UPDATE. Ach ja, und Angela Merkel darf hier nicht vergessen werden.
Am 21.2.2011:

Ich habe einen Verteidigungsminister berufen und keinen wissenschaftlichen Assistenten… Das ist, was für mich zählt.

Am 23.2.2011:

Die Entscheidung der Uni Bayreuth liegt auf der Linie dessen, was der Verteidigungsminister vorgegeben hat. Sie macht daher Sinn.

 

Sarrazin-Debatte entpersonalisieren! Samstag, 4. September 2010

Eine Woche oder schon mehr wird der Fall Sarrazin in der Politik und in den Medien aufs heftigste verarbeitet. Zuerst entstand der Eindruck, die totalitäre Methode, mit einem Schauprozess und Sündenbockbestrafung, setze sich durch. Und im gewissen Sinne ist es das auch, denn die Bundeskanzlerin und der Bundespräsident sind sich einig und erteilen Anweisungen an den unabhängigen Bundesbankvorstand, wie der unbequeme Sarrazin von seinem Posten befreit werden soll. Die Zahl der einzelnen Personen und Institutionen, die sofort mitmachen, ist groß und beschämend.
Und trotzdem zeigt sich, dass nicht nur Leserbriefautoren, sondern auch einzelne Journalisten zu mehr fahig sind, als beim Politboulevard mitzumachen.
Lesenswert sind insbesondere Texte, die uns mit der Art der Diskussion und mit Argumenten konfrontieren. Über die Meinungsfreiheit als wichtigste Errungenschaft der jungen Demokratie in Deutschland, die den politischen Versäumnissen geopfert werden darf, schreibt oder redet zum Beispiel Henryk M. Broder, zuerst in einem Interview (Link):

Die Reaktionen auf Sarrazin zeigen für mich vor allem, dass die Politiker vergessen haben, dass eine Demokratie nicht von richtigen, sondern von falschen Meinungen lebt. Über richtige Meinungen gibt es immer einen Konsens. Da ist sofort Ruhe. Falsche Meinungen dagegen provozieren immer eine Debatte. Es gibt natürlich auch falsche Meinungen, die nicht mal einen Widerspruch wert sind. Aber das, was Sarrazin schreibt, liegt innerhalb des demokratischen Spektrums. Die Folge ist, dass darüber debattiert wird. Der Versuch, Sarrazin zum Schweigen zu bringen oder ihn zu diskreditieren, wird nur neue Sarrazins hervorrufen.

Clemens Wergin folgte (Link):

Es kommt einem aber auch wie ein Exorzismus vor: Als würden die Probleme verschwinden, wenn Sarrazin als Sündenbock in die Wüste verjagt wird.

Erst dann kamen erste Versuche, sich mit Sarrazins Argumenten zu beschäftigen. Nachdenklich macht Armgard Seegers (Link):

Dass Ausländerfeindlichkeit oder die Spaltung allein durch Benennung geschürt werden, ist auch so ein Allgemeingut und trotzdem falsch. Ausländerfeindlichkeit entsteht dadurch, dass man einander nicht kennt, nicht kennenlernt, dass man nicht die gleiche Sprache spricht, dass es ungerechte Entlohnungen, scheußliche Wohnverhältnisse gibt und Menschen, die nicht wissen, dass Bildung der Schlüssel zu einem besseren Leben ist.
Ungerüffelt sagen darf man hingegen etwas über „die Amerikaner“, „die Israelis“ und „die Banker“. […] Wer unliebsame Wahrheiten benennt, wird behandelt, als hätte er gefordert, jeder, der kein guter Deutscher ist, wird bestraft, muss mehr Steuern zahlen, bekommt weniger ärztliche Versorgung oder soll wegziehen. An Minderheiten trägt die deutsche Gesellschaft ihre Identitätsdebatte aus.

Warum haben wir diese unsägliche Debatte, in der Klischees und Vorurteile ausgebreitet werden, überhaupt? Vielleicht, weil wir, anders als Franzosen oder Amerikaner gar nicht genau definieren können, wie einer zu sein hat, der zu uns gehören will. Was ist deutsch? Was muss man tun, um deutsch zu werden?

Noch ruhiger Robert Leicht (Link):

Was mich an Sarrazins Argumentation stört, liegt auf einer anderen Ebene – und nicht einmal auf der einer statistischen Relation zwischen Intelligenz und Genetik oder sozialer Schichtung. Mich stört vielmehr die Überschätzung der Intelligenz überhaupt. […] Eine gute Gesellschaft muss um das Grundrecht der Menschenwürde gebaut werden, die jedem moralisch noch nachhaltiger angeboren ist als genetisch seine Intelligenz; und natürlich zugleich auf der Achtung der Menschenwürde sowie der freien Entfaltungsmöglichkeit aller andern.

Einen kurzen launigen Text hat Hamed Abdel-Samad abgegeben (Link):

Was in dieser Debatte untergeht, ist Sarrazins Recht auf Meinungsäußerung. Man hält Gericht über ihn oder bejubelt ihn unreflektiert. Ob als Held oder als Sündenbock, Sarrazin ist ein unfreiwilliger Freund der Untätigen und Ratlosen geworden. Alle Versäumnisse, Hoffnungen und Vorwürfe haben nun eine Adresse: Superman Sarrazin. Alle, die die Integrationsmisere zu verantworten haben, können sich nun auf die Schulter klopfen und sich gegen den Buhmann verbünden.

Aber Sarrazin ist lediglich ein Ausdruck davon, dass wir ein Problem haben. Er ist der Überbringer der Botschaft, dass bei uns eine verkrampfte Streitkultur herrscht. Es fehlt eine Atmosphäre, in der ehrliche Kritik zulässig ist und die frei ist von Stimmungsmache, Apologetik und Überempfindlichkeit.

Ähnlich lustig macht sich Jürg Dedial über den Lauf der Debatte in der NZZ (Link):

Das sittliche Deutschland kann jetzt mit den Vokabeln der Unerträglichkeit und der weit übertretenen Grenzen und roten Linien versuchen, Sarrazin mundtot zu machen. In diesem Milieu der Korrektheit, zu dem auch das politische Establishment zu zählen ist, gehört dies zum Alltag. Es ist Teil der wohlfeilen Selbstdarstellung einer Klasse, bei der nur noch scharfe Bisse und laute Verrisse zählen; die Inhalte einer Auseinandersetzung sind unwichtig. Man kann fast alle Exponenten des linken Lagers aufführen, die sich jetzt in ihrer Empörung gegenseitig übertrumpfen. Aber auch die Bürgerlichen, angeführt von der Kanzlerin und dem Aussenminister, schämen sich laut für das Land und fordern oder empfehlen die Entfernung des kritischen Geistes aus ihrem Gesichtsfeld.

Freilich hat sich unseres Wissens bis jetzt keine dieser führenden politischen Figuren ernsthaft mit den tiefer liegenden Fragen auseinandergesetzt, die Sarrazin schon seit längerer Zeit aufwirft. Dabei ist die Politik die eigentliche Adressatin von Sarrazins Streitschrift. Wenn der Autor die Probleme der islamischen Minderheit beleuchtet, so fragt er in Wirklichkeit die Politik, wie es kommen konnte, dass die Muslime in Deutschland im Vergleich zu anderen Einwanderergruppen so schlecht integriert sind und in den relevanten Sozialstatistiken so dürftig abschneiden. Er fragt, wie es hat kommen können, dass in zahlreichen Städten, aber auch auf dem Land, richtige Parallelgesellschaften entstanden sind, die sich um eine Anpassung an deutsche Normen und Traditionen überhaupt nicht zu kümmern brauchen. Und er fragt, wie angesichts der von ihm gebrandmarkten und kaum widerlegten Tendenzen, bei denen die Integration nur eines der Probleme darstellt, das wirtschaftliche, politische und soziale Gewebe der deutschen Nachkriegsdemokratie überleben kann. Dies sind Fragen, um deren Beantwortung Deutschland nicht herumkommt.

Die grosse Gefahr liegt darin, dass die Politik (einmal mehr) nicht erkennt, wie sie an einem breiten Unbehagen und Misstrauen in weiten Teilen der Bevölkerung vorbeiagiert. Man kann sich in Empörung und Entrüstung ergehen; aber man darf dabei nicht blind werden. Und wer Sarrazin vorwirft, deutsche Wertvorstellungen zu desavouieren, muss genau prüfen, von welchen Wertvorstellungen er spricht. So gesehen scheint es, dass gerade Sarrazins Partei, die SPD, ein fast chronisches Problem mit Querdenkern und kritischen Geistern hat, die nicht in den politisch korrekten Programm-Raster passen. Gar schnell versucht sie, ihre inhaltliche Erstarrung mit Parteiausschlüssen zu übertünchen. Hessische SPD-Dissidenten oder Figuren wie Wolfgang Clement wissen davon ein Lied zu singen. Thilo Sarrazin könnte das nächste Opfer sein. Dabei sollte die Partei froh um ihn sein.

Die eigentliche Auseinandersetzung mit den Argumenten Sarrazins mussten konservative Denker übernehmen, was einerseits bezeichnend ist, andererseits irgendwie – nach meinem Geschmack – schade. Wie auch immer, sehr empfehlenswert sind Berechnungen bei kassandra2030.wordpress, dort sind auch klare Widerlegungen der logischen Fehler der Bundeskanzlerin zu finden (Link):

Ein weiteres Beispiel: Bundeskanzlerin Angela Merkel, die der Ansicht ist, Sarrazin rede „dummes Zeug“18, schreibt in der „Bild“: „Junge Menschen türkischer Herkunft sagen mir immer wieder, dass Deutschland ihre Heimat ist“.19 Das mag sein, aber laut der Studie des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsens (s.o. Fn. 1) sind es nur etwa 21% der muslimischen Jugendlichen, die so denken. Die jungen Menschen türkischer Herkunft, die Frau Merkel kennengelernt hat, „widerlegen“ also nicht die Tatsache, dass die große Mehrheit sich nicht als Deutsche sieht. […] Zum selben logischen Irrsinn gehört es, absolute Zahlen zu nennen, die ohne Bezugspunkt vollkommen nichtsaussagend sind. Wieder Bundeskanzlerin Angela Merkel in der „Bild“: „Die rund 64 000 türkischen Unternehmen in Deutschland mit ihren mehr als 320 000 Beschäftigten erwirtschafteten im Jahr 2005 fast 30 Milliarden Euro.“ Schön und gut – aber im Verhältnis zu den Deutschen ist dies eine unterdurchschnittliche Rate an selbstständigen Unternehmen, geschaffenen Arbeitsplätzen und erwirtschaftetem BIP im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung. Widerlegt hat Frau Merkel damit nur die Aussage „es gibt überhupt gar keine türkischen Unternehmer, die Arbeitsplätze schaffen“, die aber niemand getätigt hat, während Sarrazins Behauptung von dem mangelnden ökonomischen Nutzen muslimischer Einwanderer als Aggregat davon unberührt bleibt (siehe dazu oben Teil 1, Nr. 1). Nach dem gleichen Muster „widerlegt“ auch der Vorstandsvorsitzende der Türkisch-Deutschen Unternehmervereinigung, Hüsnü Özkanli, die Behauptungen Sarrazins, indem er klagt: „Wir tragen zum deutschen Wirtschaftssystem bei, indem wir Ausbildungs- und Arbeitsplätze schaffen, unsere Jugend studiert. Was sollen wir sonst noch machen … ?“ (von Christian Geyer in der FAZ von 26.08.2010 zustimmend zitiert).

Nach drei großen Talk-Runden waren mehrere Möglichkeiten da, den Stand der Debattenkultur zu bewerten. So meinte Cora Stephan (Link), ein Land erlebt zu haben,

in dem der Ökonom Thilo Sarrazin von der Politikerin Renate Künast als „menschlich schäbig“ und „gefühlskalt“ beschimpft wurde, weil er sich auf Zahlen und Statistiken bezieht. In dem eine deutschtürkische Landesministerin aus Niedersachsen, die der Presse „kultursensible Sprache“ gegenüber türkischen Migranten verordnen wollte, stolz verkündet, „sie brauche keine Statistiken und Analysen“, da sie die „Migranten ja kenne“.
Ob bei Beckmann, ob bei Plasberg: es triumphierten die Menschlichkeit und das Leben über das statistische Teufelszeug, das „Menschen auf Zahlen“ reduziere. Selbst die Bundeskanzlerin, von Haus aus Naturwissenschaftlerin, übernahm den neuen Gefühlssprech und ließ uns an ihren Empfindungen teilhaben. Alles andere hieße ja wohl auch, über eigene Versäumnisse zu reden.
Denn Thilo Sarrazin konstatiert, was schlechterdings nicht zu leugnen ist: eine Minderheit hierzulande will sich nicht integrieren, da sie diese Gesellschaft, ihre Kultur und ihre autochthone Bevölkerung verachtet – deren Vertreter wiederum trauen sich nicht, den nötigen Respekt auch einzufordern. Das ist und bleibt der Hauptpunkt der Debatte – die nun im Namen der Menschlichkeit und der Gefühle zusammen mit Thilo Sarrazin erlegt und erledigt werden soll.
Es ist an Schäbigkeit nicht zu überbieten, was uns hier als Debattenkultur, als Weltoffenheit, als Menschlichkeit und buntes Multikulti vorgeführt wird. Die Vertreter der deutsch-türkischen Community tun beleidigt und leugnen das Problem. Politiker setzen auf das dort vermutete Wählerpotential und leugnen ihrerseits, daß das hierzulande übliche „Fördern statt Fordern“ längst an seine Grenzen gestoßen ist. Und niemand vertritt die Interessen der eingeborenen Bevölkerung, die ja womöglich Gründe dafür hat, daß sie sich die Objekte ihrer kulturellen Sensibilität von niemandem vorschreiben lassen will.
Und Sarrazin? Ist der Sündenbock, dem blanke Menschenverachtung und blanker Hass entgegenschlagen und der dennoch und auf fast rührende Weise immer und immer wieder versucht, doch noch ein Argument loszuwerden.
Nun, Umfragewerte und Internetkommentare lassen erkennen, daß das Volk mit den politischen Eliten auch hier nicht übereinstimmt. Beide großen Parteien haben die Gefolgschaft ihrer Wählerschaft eingebüßt. Der SPD droht ein Aufstand der Basis, wenn sie Sarrazin ausschließt. Und der Kanzlerin wird man es übel vermerken, daß sie einen wichtigen Amtsträger, die Meinungsfreiheit und die ihr von Amtswegen angemessene Distanz geopfert hat, um der SPD das Leben noch ein wenig schwerer zu machen. Und alle gemeinsam haben sich mit ihrer menschelnd aufgemotzten Verlogenheit bis auf die Knochen blamiert. Eine große Mehrheit der Deutschen sieht Thilo Sarrazin nun erst recht als den aufrechten, integren, ehrlichen, standhaften Mann, dem es an jener Aalglätte fehlt, mit der die anderen sich unangreifbar gemacht haben.
Der Fall Sarrazin ist für dieses Land eine historische Wegmarke. Und das ist in der Tat kein gutes Zeichen.

Es lohnt sich, in dem Zusammenhang zwei Beobachtungen der Illner-Runde zu vergleichen. Regine Mönch bei der FAZ (Link) sah das Eine:

Bernd Ullrich von der „Zeit“, der Grüne Özdemir und die Politikwissenschaftlerin Naika Foroutan sprachen schließlich für eine imaginäre Gruppe, für ein Wir, dass von Thilo Sarrazin gekränkt worden ist. Denn am meisten, so Ullrich, habe ja nicht Sarrazin unter dieser Debatte zu leiden, sondern die liberalen und gebildeten Türken und Moslems, die entmutigt würden. Broders Einwand, die Kanzlerin habe den Ton gesetzt, obwohl sie doch nicht als Literaturkritikerin gewählt sei und damit versucht, die Debatte abzuwürgen, konterte Özdemir: Die Kanzlerin habe Schaden vom Land abwenden wollen […] Frau Foroutan rief schließlich wie in den Hochzeiten ostdeutscher Gekränktheitsrituale „wir fühlen uns diffamiert“ (zuvor hatte sie noch „den Deutschen“ attestiert, die fühlten diese Misserfolge der Integration nur, die es so gar nicht mehr gäbe) und bedankte sich bei der Kanzlerin, weil die sich „vor uns Muslime“ gestellt hat. Und dann stellte sie gleich noch die gesamte Statistik-Analyse Sarrazins in Frage. Sie habe ganz andere Zahlen, rief Foroutan, schwenkte einen Zettel und trug mit atemraubender Geschwindigkeit vor, dass weder die Arbeitsmarktzahlen für Migranten noch die Bildungsmisere noch die Gewalttaten türkischer und arabischer Jungen oder die Familiengrößen muslimischer Einwanderer irgendeine Richtigkeit hätten. Kurzum, vergessen Sie Bildungsberichte und Mikrozensus, das rechnet Ihnen Frau Foroutan von der Humboldt Universität Berlin in Nullkommanix hinüber ins Schöne!

Die Talkrunde war verblüfft und nicht einmal Maybritt Illner mochte da noch die anderslautende Fakten-Analyse ihrer Redaktion, nachzulesen im Internet, dagegenhalten. Höflich ironisch meinte lediglich Roger Köppel zu diesem statistischen Taschenspielertrick, dass sie, Frau Foroutan, sollte sie sich geirrt haben, wenigstens nicht fürchten müsse, dann ihren Job zu verlieren. Naika Foroutan leitet an der Universität das Projekt „Heymat“ und kreiert dort, unbelastet von den Integrationsproblemen dieses Landes, die „Neuen Deutschen“. Der Begriff, so steht es im Internet, wurde von ihr bewusst gewählt „in Abgrenzung zum Begriff der ‚alteingessenen Deutschen‘, die für sich Etabliertenvorrechte reklamieren“.

Damit ist jetzt also Schluss, die Politikwissenschaftlerin scheint ihre Identitätsforschung gleich mit einer ganz eigenen, neuen deutschen Wohlfühlstatistik ergänzen zu wollen. Deren Premiere und ihr Alleinstellungsmerkmal, die Unüberprüfbarkeit, konnte der Zuschauer am Donnerstagabend bei Maybritt Illner erleben. Nun freue dich doch endlich, Deutschland.

Dagegen sah Carin Pawlak beim „Fokus“ etwas Anderes (Link):

Wenn er eine tiefe Genugtuung spürt, spricht der Jude Broder vom „inneren Reichsparteitag“. Für denselben Begriff ist die nicht jüdische Sport-Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein bei der Fußball-WM in Südafrika übrigens fast vom Mikro-Platz geflogen. „Ich glaube nur Statistiken, die ich selbst gefälscht habe“, legt Broder weiter nach. Churchill? Nein, ein Satz aus dem Reichspropagandaministerium.
Jetzt ist Berufsprovokateur Broder auf Betriebstemperatur. Die Äußerung von Kanzlerin Merkel, Sarrazins Buch sei „nicht hilfreich“, ist für ihn eine unwillkommene Einmischung. Sie sei als Politikerin gewählt und nicht als Literaturkritikerin. Broders Bombe: „Das steht in der Tradition der Reichsschriftumskammer.“ Der Gründung dieser RSK ist die Bücherverbrennung durch die Nazis vorangegangen. Ab 1934 musste, wer in Deutschland Bücher veröffentlichen wollte, Mitglied dieser Kammer sein, die unter der Leitung von Joseph Goebbels stand. Ist dieser Satz Broders hilfreich? Fällt er unter die derzeit viel disputierte Meinungsfreiheit oder ist er skandalös? Chuzpe XXL oder extreme Wahrheit? Er ist schlicht obszön.
Und ist die Erregung rituell? Nein, sie ist echt. „Jetzt muss ich die Kanzlerin verteidigen“, sagt Cem Özdemir aufgebracht. Vielleicht will er nach der Sendung Herrn Broder privat auch wieder siezen? Und Herrn Broder zum Rücktritt von irgendwas auch immer auffordern. Aber da hat Brandstifter Broder längst seine letzte Volte in dieser Biedermänner-Runde geschlagen. Was er sich wünscht von den Bürgern mit Migrationshintergrund? Also einer Deutschen wie Naika Foroutan. „Ich finde, wir brauchen mehr Deutsche, die so gut aussehen wie Sie.“ Sagt er. Und sie antwortet wirklich und mit heiligem Ernst: „Danke sehr.“ Es muss wirklich noch viel geredet werden in Deutschland.

UPDATE: Dass Broder auch in seinem Skepsis gegenüber der Zahlendaten von Frau Foroutan Recht hatte, zeigt die Überprüfung auf der „Achse des Guten“ (siehe den Beitrag von Thomas Baader).
Was ich damit zeigen will: Es ist eine Debatte da, mit unterschiedlichen Meinungen, und zum Teil mit richtigen Argumenten. Und am Ende sei Thomas Eppinger zitiert, der sich absolut zu Recht empört (Link), und zwar darüber,

dass Frau Merkel die in Deutschland lebenden Türken in Schutz nimmt. Hm. Vor wem denn?
Werden Moscheen angezündet, die Scheiben von türkischen Kulturzentren zertrümmert, werden türkische Gräber geschändet, werden Steine auf türkische Volkstanzgruppen geworfen, reißen Polizisten türkische Fahnen vom Balkon, schreit der Pöbel auf den Straßen „Tod der Türkei“?
Ich kann mich nicht erinnern, ein Wort von der Kanzlerin vernommen zu haben, als all dies einer anderen Bevölkerungsgruppe widerfahren ist. Und jetzt müssen die Türken vor einem Buch beschützt werden?
In Deutschland ist jeglicher Maßstab verloren gegangen.

Zum Schluss möchte ich hier einen Beitrag der Süddeutschen Zeitung zur Sarrazin-Debatte auseinanderpflücken, und zwar von der selbsternannten Wissenschaftlerin Lamya Kaddor, die kein Problem damit hat, sich in der medialen Öffentlichkeit als wissenschafltiche Mitarbeiterin der Uni Münster titulieren zu lassen, auch Jahre nach der unfreundlichen Verabschiedung. Auch kein Problem hatte sie mit der Finanzierung ihrer Projekte durch den Großen Libyschen Diktator. Zuerst sieht sie Sarrazin mit seinen „kruden Weisheiten“ und „Gehässigkeiten“ in der Nähe der NPD, ohne nur einmal zu zitieren. Wie hätte sie das auch tun können? Ihren Text schrieb sie Tage vor der Bucherscheinung. Dann kommt sie zum Eigentlichen (Link):

Das eigentlich Erschütternde ist der breite Raum, der ihm geboten wird. […] Seine Ausführungen heißen „Analysen“, dabei könnten Studierende im Grundstudium seine Argumente mühelos widerlegen. Warum also so viel Ehre für einen Mann, der behauptet, das Versagen von Teilen der türkischen Bevölkerung könne auch genetisch bedingt sein? Der mit der Einschränkung von Grundrechten spielt und Menschen kalt nach ihrem ökonomischen Wert in nützlich und nutzlos einteilt? Dieses Auftreten ist nicht nur selbstherrlich, es macht Angst. Sarrazin denkt nicht anders als ein Islamist; beide löschen sie den Geist des Grundgesetzes aus.

Kaddor braucht nichts zu zitieren und zu widerlegen. Sie behauptet, diffamiert und denunziert, um gleich auch zum Verbot aufzurufen. Besonders interessant ist die Logik: Sarrazins Halbwissen über die Genetik mache ihn vergleichbar mit Islamisten. Sie meint offensichtlich und spricht das etwas weiter auch aus, dass beide Rassisten seien, wenn sie Necla Kelek und Thilo Sarrazin zusammen sieht,

wenn er auf großer Bühne das Feindbild Islam unters Volk bringen darf

Über wie viel Wissen verfügt Kaddor im Bezug auf den Islam, wenn sie so über die Islamisten redet? Wenn sie vom Versagen einiger Teile der türkischen Bevölkerung auf das Feindbild Islam und weiter auf Islamisten so leicht springt?
Die Debatte muss weiter gehen. Auch wenn Frau Kaddor, Frau Foroutan und Frau Merkel das anders sehen.

 

Wie viele Außenminister haben wir eigentlich? Mittwoch, 14. Juli 2010

Dirk Niebel bleibt unruhig (Link):

Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) erklärte nach einem Gespräch mit dem ägyptischen Ministerpräsidenten Ahmed Nazif in Kairo, er habe den Eindruck gewonnen, dass auch Ägypten die andauernde Blockade des Gazastreifens inzwischen für kontraproduktiv hält. „Natürlich hat Ägypten in der Frühphase die Blockade des Gazastreifens mit unterstützt“. Inzwischen habe sich jedoch die Ansicht durchgesetzt, dass die Blockade auf Dauer der Hamas-Bewegung letztlich mehr Zulauf verschafft. Die Ägypter seien wie er selbst der Meinung, dass die Situation mit dem libyschen Schiff „unglücklich“ sei.

Was denkt die Deutsch-Israelische Gesellschaft dazu? Und viel mehr sein Kollege Westerwelle?

 

Deutscher Bundestag gegen Israel: Einstimmig Einseitig Freitag, 2. Juli 2010

Ein wahrlich neues Kapitel in der deutschen Geschichte. Zum ersten Mal sind alle Fraktionen und alle Abgeordneten sich einig, sie belehren Israel, auf die Hamas zuzugehen, ohne zu merken, dass sie die Grundprinzipien der deutschen Aussenpolitik dabei verletzen. Die weltweite Empörung unter den Juden ist sehr stark, die Folgen für das Ansehen Deutschlands sind noch nicht ganz klar. Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland wird sich überlegen müssen, ob es die Zeit für das Packen der bekannten Koffer angekommen ist.
Ich zitiere besonders heikle Stellen aus dem Antrag (Link):

I.3 Die israelischen Soldaten sind mit Gewalt unter Einsatz von
Schusswaffen vorgegangen, als sie nach Aussagen der israelischen
Regierung von Aktivisten angegriffen wurden. Das Völkerrecht zieht für
die Anwendung staatlicher Hoheitsgewalt gegenüber Schiffen auf hoher
See Grenzen. Es bestehen starke Hinweise, dass beim Einsatz von
Gewalt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt wurde.

Der letzte Satz ist falsch, bezeugt die ungeprüfte Benutzung einseitiger Information.

I.8 Die Blockade Gazas ist aber kontraproduktiv und dient den politischen
und Sicherheitsinteressen Israels letztlich nicht. Das erklärte Ziel der
Freilassung des von Kräften der Hamas widerrechtlich festgehaltenen
Angehörigen der israelischen Streitkräfte Gilad Shalit ist bislang nicht
erreicht. Die islamistische Hamas ist nicht geschwächt, sondern profitiert
politisch und wirtschaftlich, vor allem durch die „Tunnelwirtschaft“, von
der Blockade. Die Versorgung funktioniert unter der Aufsicht und zum
Vorteil von Hamas, die Abgaben auf die Waren erhebt, die über die
geschätzt rund 600 Tunnel aus Ägypten eingeführt werden. Daher hat
Hamas selbst kein Interesse daran, dass legale Übergänge nach Gaza
geöffnet werden.

Die Blokade wäre produktiver, wenn sich die EU und andere Hamas-Unterstützer an diese halten würden, wenn sie für die Shalit-Freilassung etwas getan hätten. Die Hamas profitiert in erster Linie von der EU- und UN-Hilfe.

I.10 Nach Angaben des Leiters der United Nations Relief and Works Agency
(UNRWA), John Ging, erschwert die Blockade die Arbeit der UNRWA.
So kann die UNRWA die Grundversorgung im Bildungsbereich nicht
sicher stellen, weil kaum Baumaterial eingeführt werden kann und es so
nicht möglich ist, Schulgebäude zu bauen. Hamas kann diese Situation
ausnutzen und die fehlenden Schulangebote machen, um die
Bevölkerung, vor allem Jugendliche, in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Dass die Hamas die Arbeit der UNRWA erschwert, wird nicht einmal als Gedanke zugelassen, obwohl dafür reale Beweise vorliegen. Irrsinnig wird angenommen, dass die Hamas auf die Bearbeitung der Bevölkerung verzichten würde, falls die Blokade ausgesetzt wird.

II.3 [Die Aufforderung,] dass der
Generalsekretär der Vereinten Nationen damit beauftragt wird, mit Israel
über den Zugang nach Gaza auch auf dem Seeweg und die Schaffung
entsprechender technischer Voraussetzungen mit dem Ziel zu
verhandeln, dass unter Wahrung der Sicherheitsinteressen Israels von
den Vereinten Nationen benötigte Güter nach Gaza eingeführt werden
können;

…ist bloßes Gerede und offenbart volle Unbedarftheit des deutschen Bundestages in den Fragen der realen Politik im Krisenregion in der Kriegssituation. Beschämend ist es ausserdem, dass die Aufforderung mit dem Delegieren einhergeht, so dass keine Verantwortung für diese übernommen wird.

II.4 [Die Aufforderung,] die Forderung der Europäischen Union nach einer sofortigen Aufhebung
der Gaza-Blockade mit Nachdruck zu unterstützen und darauf
hinzuwirken, dass Israel die Positivliste von Gütern, deren Einfuhr
möglich ist, in eine Negativliste verbotener Güter wieWaffen und
waffenfähiges Material umwandelt;

zeigt genauso die Unfähigkeit, die politische Realität wahrzunehmen und auszuformulieren: Die Blokade aufzuheben würde die Änderung der Positivliste in eine Negativliste sinnlos machen und umgekehrt. Ausserdem hat die israelische Regierung das mit der Negativliste schon getan bzw. angekündigt.

In der Aussprache zum Antrag im Bundestag (Link) wurde offenbart, dass die Initiative von den Grünen ausgeht (namentlich Kerstin Müller). Die Reden sind voll falscher Behauptungen. Zum Beispiel, Wolfgang Gehrke (Die Linke):

Diese Blockade hat auch eine Schattenwirtschaft
und einen Schwarzmarkt in Gaza hervorgerufen und hat
den Terrorismus gestärkt und nicht geschwächt.

Die Zahl der Raketen vor dem Gazakrieg und nach diesem spricht eine andere Sprache.
Köstlich ist auch sein scheinheiliger Pazifismus:

Die Blockade ist so etwas wie die Fortsetzung des Krieges.
Das kann man einfach nicht akzeptieren.

Wunderschön auch seine gespielte Naivität:

Für mich ist es ein Rätsel, wie die israelische Regierung
so dauerhaft und nachhaltig gegen die Interessen
des eigenen Landes handeln kann.

Thomas Silberhorn (CDU/CSU) muss einen Eiertanz ausführen und das tut er:

Das birgt durchaus zwei nicht zu unterschätzende Gefahren:
Zum einen kann es eine Eskalation dieses Konflikts
geben. Zum anderen liegt darin eine mögliche Belastung
auch für die Koalition gegen das iranische Atomprogramm
und die iranischen Vormachtbestrebungen in
dieser Region, die auch Israel als die größte Gefährdung
für die regionale Stabilität betrachtet.

Das sind seine Gründe, darauf zu bestehen, die Blokade der Hamas aufzuheben.
Rolf Mützenich (SPD) ist davon überzeugt, dass die Lösung des Konfliktes an dem deutschen Bundestag liegt:

Ein Teil des Problems ist – das wird dadurch
ersichtlich –, dass die unterschiedlichen Gruppen
so stark in ihrer Vorstellung verhaftet sind, dass sie glauben,
diesen Konflikt nur aus ihrer Sichtweise heraus lösen
zu können, was dazu führt, dass Empathie fehlt.
Umso mehr bin ich froh, dass zwischen diesen vier Fraktionen
ein Konsens erreicht worden ist.

Seine einzige Richtung bei den Friedensgesprächen steht fest:

Ich würde
mir wünschen, dass sowohl die Bundeskanzlerin als
auch der Außenminister gegenüber der israelischen Regierung
noch aktiver werden würden, als sie das bisher
gewesen sind.

Seine einzige Sorge:

Ich sage aber auch ganz klar: Die Zeit läuft
weg. Es stehen letztlich nur noch ganz wenige Wochen
zur Verfügung. Wir müssen aufpassen, dass wir durch
unsere Politik die Spaltung der palästinensischen Gesellschaft
nicht noch verstärken.

Im folgenden Abschnitt wird noch Schlimmeres angedeutet:

Wir haben
während der Aktuellen Stunde über die Situation im
Gazastreifen gesprochen, aber auch über die Rolle des
politischen Islam. Ich glaube, wir müssen unsere Rolle
gegenüber der Hamas überdenken und die Frage klären,
wie wir damit umgehen. Wir führen im Grunde genommen
auf Bitten der israelischen Regierung schon Gespräche
mit der Hamas wegen des entführten Soldaten Schalit.
Aber wir müssen versuchen, uns aus diesen
Widersprüchen zu befreien. Denn hinter der Hamas
droht, so glaube ich, vielleicht noch eine viel größere
Herausforderung, die wir im Gazastreifen immer wieder
gesehen haben.

Meint Mützenich tatsächlich das, was er sagt, nämlich der Hamas noch mehr auf die Kosten der Shalit-Verhandlungen entgegenzukommen?
Rainer Stinner (FDP) vertritt die alte und neue FDP-Tradition gegenüber Israel: Das eine sagen und das Gegenteil tun.

Dieser Antrag
bedeutet natürlich in keinster Weise – in keinster
Weise! – irgendein Abrücken von dem gemeinsamen
Konsens im Deutschen Bundestag über unsere historisch
bedingte besondere Beziehung zum Staat Israel. Die ist
von diesem Antrag in keinster Weise grundsätzlich berührt.
Das möchte ich sehr deutlich sagen.

Seine Argumentation:

Wir hatten heute Morgen wieder
mit John Ging beim Frühstück ein interessantes Gespräch,
in dem er uns eindrücklich geschildert hat, welche
miserablen Bedingungen humanitärer Art im Gazastreifen
herrschen.

Gemeint ist der UNRWA-Mann, der als alleiniger Experte die Abgeordneten bearbeiten durfte.
Weiter:

Wir sind der festen Überzeugung, dass
die Negativsituation im Gazastreifen gegen die Interessen
Israels gerichtet ist und dass sie insbesondere die Interessen
der Hamas fördert. Denn der Hamas ist es durch
die Blockade, die wir erleben, gelungen, eine Tunnelund
Schattenwirtschaft aufzubauen, bei der sehr viel
Geld fließt und sehr viele Leute reich werden. Der für
die Entwicklung des Gazastreifens dringend notwendige
Aufbau einer tragenden Wirtschaft im Gazastreifen wird
dadurch aber nicht erreicht.
[…] Es reicht nicht aus, die Zahl der Lkws von 140 auf
etwa 160 zu erhöhen. Es geht darum, grundsätzlich an
der Blockade zu arbeiten und sie zu beseitigen, um bessere
Lebensbedingungen zu ermöglichen.

So einfach ist das! Und gleich schwuppdiwupp ist die Hamas entmachtet und dem Frieden steht nichts mehr im Wege.
Kerstin Müller (Bündnis 90/Die Grünen) will genauso wie Stinner zu Niebels aussenpolitischem Auftritt stehen. Bei ihr klingt das besonders hübsch:

Auch
ich war nicht damit einverstanden, dass man dem Entwicklungshilfeminister
den Zugang nach Gaza verweigert
hat. Wir führen dort Entwicklungsprojekte durch.
Wir haben vor, ein Klärwerk zu bauen, das sehr wichtig
und entscheidend für die dortigen Lebensbedingungen
ist. In diesem Fall muss es ihm möglich sein, sich anzuschauen,
was dort gebaut wird.

Wie bekannt, ist noch gar nicht klar, ob die Bauarbeiten anfangen werden. Also nur ein blabla. Sie macht auch kein Geheimnis daraus, für wessen Lob sie das alles arrangiert:

Ich hatte heute ein Gespräch mit John
Ging, dem Leiter von UNRWA. Ich weiß nicht, ob einige
von Ihnen ebenfalls die Gelegenheit dazu hatten; er ist
auch morgen noch einmal hier. Er ist begeistert davon,
dass gerade von Deutschland ein solches Signal ausgeht.
Weder die armen Palästinenser noch die israelischen Hardliner wurden also konsultiert. Na toll! Das bestätigt sie auch noch deutlicher:
Ich will hier noch kurz darauf eingehen, dass es die
Sorge gibt, damit würden die Sicherheitsinteressen Israels
nicht gewahrt. Wir sagen hier sehr klar: Das soll
mit Israel vereinbart werden. Die Idee ist, dass entweder
in Aschdod oder in Zypern eine Kontrolle stattfindet und
erst dann die Schiffe nach Gaza gelassen werden. Damit
würde man erstens einen unbürokratischen Zugang
schaffen und zweitens denjenigen den Wind aus den Segeln
nehmen, die vielleicht unter ganz anderer politischer
Flagge demnächst wieder auf Gaza zusteuern wollen.
Das ist der Charme der Idee, zusätzlich einen
Seeweg zu eröffnen.

Das ist der Charme, dass die israelische Regierung nicht einmal gefragt wird. Und noch mehr Charme strahlt Kerstin Müller aus, wenn sie sagt:

Wir sehen in Europa zunehmend eine
antiisraelische Stimmung. Ich halte es auch deshalb für
wichtig, dass wir mit konkreten Initiativen – das hat
John Ging heute noch einmal deutlich gesagt – nach
vorne blicken und sehen, wie man die Lage verbessern
kann.

Realistisch und durchdacht, nicht wahr?
Philipp Mißfelder (CDU/CSU) ist in dieser Runde ein besonderes Gewicht, da er zu alldem noch im llustren Verein gegen Antisemitismus mit vorsitzt und wie Niebel ganz genau weiß, bei welchem Mist er mitmacht. Deswegen bleibt er auch lieber beim Nichtssagenden, um später nicht belangt zu werden:

Mit der heutigen Debatte und dem gemeinsamen
Antrag setzen wir ein Zeichen. Wir zeigen,
dass es uns wichtig ist, die Konflikte gemeinsam an der
Seite Israels zu lösen. Gerade vor dem Hintergrund unserer
historischen Verantwortung und unserer Geschichte,
die in der heutigen Zeit nicht von Schuld, sondern von
großer Verantwortung geprägt ist, geht es darum, gemeinsam
die Ziele des Friedens zu erreichen. Ich finde, unser
Antrag ist dabei sehr hilfreich.

Er setzt ein Zeichen, damit ist schon alles gesagt.
Am Ende sei noch eine ruhige Ablehnung des Antrags seitens Zentralrats der Juden in Deutschland erwähnt (Link), die noch nicht komplett zur Verfügung stehende scharfe Kritik vom Simon Wiesenthal Center (Link) sowie ein kleiner kritischer Artikel von Clemens Wergin (Link). Ansonsten großes Schweigen. Ich interpretiere dieses Schweigen als große Trauer.
UPDATE: Inzwischen sind weitere Kommentare online. Von Axel Zacharias, der den deutschen Bundestag gegen das Simon Wiesenthal Center verteidigt (Link):

Der bekannte Reflex, solcherart wohlmeinende Kritik gleich abzubügeln, kam diesmal merkwürdigerweise nicht aus israelischen Regierungskreisen, wohl aber mit fast pöbelnder Wortwahl von einer jüdischen Menschenrechtsorganisation. Das nun wieder lässt tief blicken.

Von Christian Böhme, der im höchtsen Maße alarmiert ist (Link). Von Henryk Broder, der es schafft, auch aus dieser Story einen gut sitzenden Witz über den gesamten deutschen Bundestag abzuleiten (Link):

War früher die so genannte Judenfrage das überparteiliche Band, das die Deutschen zusammenhielt, so ist es heute die Palästina-Frage, die ein Gefühl der nationalen Einheit erzeugt. Ein Parlament und eine Regierung, die von einer hausgemachten Krise nach der anderen kalt erwischt werden, die sich nicht einmal auf den Mehrwertsteuersatz im Hotelgewerbe einigen können, wollen einen maßgeblichen Beitrag zur Befriedung des Nahen Ostens leisten. Wie Kinder, die beim Monopoly-Spiel Opel übernehmen und Karstadt vor dem Bankrott retten möchten.
Ob der Bundestag eine fraktionsübergreifende Resolution zu Gaza abgibt oder erklärt, die Erde sei eine Scheibe, die auf dem Rücken der Fraktionsgeschäftsführer ruht, ist für den Verlauf des Weltgeschehens freilich vollkommen irrelevant. Das ist einerseits tröstlich, andererseits erschreckend. Die Abgeordneten wollen nur spielen. Gestern war es die Reise nach Jerusalem, morgen wird es wieder Räuber und Gendarm sein.

Von Ulrich W. Sahm, der den Antrag wie immer brillant und scharf genau auseinandernimmt und an diesem nichts Gutes findet (Link):

Dieser Vorschlag zeugt von Naivität und einem gefährlichen Unwissen. Der Staat Israel, dessen Existenzrecht erst noch anerkannt werden muss, sollte vorsichtig sein, sich von deutschen Parlamentariern seine eigenen „Sicherheitsinteressen“ vorschreiben zu lassen, wenn ihnen nicht einmal elementare Fakten bekannt sind.

 

Endlich korrekte Darstellung und angemessene Kritik Dienstag, 8. Juni 2010

Filed under: Deutschland,Die Welt,Israel,Medien — peet @ 13:26 Uhr
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… finde ich im Artikel von Clemens Wergin in der „Welt“ von gestern. Auch wenn in den Kommentaren der antisemitische Mob tobt…

Fast alles stimmt, was Clemens Wergin schreibt. Ich würde nur zwei Sachen anders sehen.

Solange die Hamas in Gaza an der Macht ist, werden eine Seeblockade und eine scharfe Kontrolle der Grenzübergänge nötig bleiben.

De facto ja, aber de jure ist das anders – die Gründe für die Seeblockade heißen Korporal Shalit und alltägliche Kassamraketen.

Israel sollte aber die Bedürfnisse der Bevölkerung von Gaza stärker berücksichtigen.

Ich würde sagen – die Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung stärker und weitschauender berücksichtigen. Ansonsten sehr gut. Warum nicht gleich so?!

UPDATE: Von Clemens Wergin ist noch ein guter Artikel mit dem wahren Titel „Israel kann nicht auf Fairness zählen“ erschienen. „Die Welt“ ist eine positive Ausnahme in der deutschen überwiegend antiisraelischen Medienlandschaft!

 

Russischer Propagandasieg im Krieg gegen Georgien Samstag, 8. August 2009

Bei der Auswertung der zahlreichen Publikationen zum Jahrestag des russisch-georgischen Krieges 2008 fällt sofort auf, dass sich die überwiegende Masse der deutschen Medien auf die Seite Putins-Medwedews stellt. Ohne Respekt vor Fakten, ohne minimales Verständnis für die Folgen des Krieges wird dabei Saakaschwili beschuldigt, diesen Krieg angefangen zu haben. Alle Fakten sprechen dagegen, sie werden ignoriert.

Der „ausgewiesene Russland-Experte“ Gerhard Mangott erfindet in dem „Standard“ (Link):

Ein wesentlicher Grund, warum Saakaschwili im vergangenen Sommer die Konfrontation mit Russland gesucht hat, war die Überlegung, dass es möglicherweise ein sehr enges Zeitfenster für Georgien geben könnte, der NATO beizutreten oder sich ihr längerfristig anzunähern. Es war klar, dass das mit John McCain auch gegen deutschen und französischen Widerstand funktionieren würde, wie dieser mehrfach deutlich gemacht hat. Aber es war im August schon relativ klar, dass die Wahl eher von Obama gewonnen wird. So hat Saakaschwili versucht, durch die Niederschlagung der Separatisten Fakten zu schaffen, die eine Annäherung an die NATO erleichtert hätten.

Gesine Dornblüth bei der „Deutschen Welle“ (Link) schildert die Sichtweise der beiden Seiten, erwähnt aber auch:

Das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ berichtete vorab, die Kommission komme zu dem Ergebnis, dass die Georgier den Krieg begonnen hätten.

Manfred Bleskin bei n-tv (Link) ist von der russischen Sicht der Abläufe vollkommen geblendet:

Präsident Michail Saakaschwili verhält sich so, wie vor dem 7. August 2008: Er schwadroniert von – neuerlichem – Krieg. So laut, dass sich US-Vizepräsident Joseph Biden gezwungen sah, den immer lästiger werdenden Verbündeten telefonisch in die Schranken zu weisen.

David Nauer im Tagesanzeiger (Link) geht noch weiter:

Inzwischen steht fest: Den Krieg losgetreten haben die Georgier. In der Hoffnung auf einen schnellen Sieg schickten sie Panzer gegen Zchinwali, feuerten ganze Raketenschwärme auf Wohnhäuser. Die Russen, auch nicht zimperlich, hatten auf eine solche Dummheit der Georgier nur gewartet und schlugen brutal zurück.

Bei allen hinterlistigen Absichten des Kremls: Die Verantwortung für diesen Krieg trägt Georgiens Präsident Michail Saakaschwili. Der einstige Hoffnungsträger ist zum Kriegstreiber verkommen. Er hatte sein ganzes Renommee an die «Heimholung» der abtrünnigen Gebiete geknüpft und war am Schluss bereit, dafür über Leichen zu gehen.

Die anderen Medien versuchen ziwschen zwei Stühlen zu sitzen und schreiben im betont neutralen Ton, dass beide Seiten am Krieg ihre Schuld tragen. So Sonja Zekri in der Süddeutschen Zeitung (Link), Michael Ludwig in der FAZ (Link), Silvia Stöber bei der Tagesschau (Link).
Etwas klarer sieht Alice Bota in der „Zeit“ (Link):

die Lehre aus einer dauerhaften Politik der Verdrängung wäre verheerend: Ist ein Land nur unwichtig genug, darf Russland einfach alles.

Aber auch sie ist überzeugt:

Als Michail Saakaschwili in den ersten Kriegstagen zufällig gefilmt wurde, wie er sich wirr vor Sorge seine Krawatte in den Mund stopfte, dürfte er geahnt haben, dass er im Westen bald schon kein gern gesehener Gast mehr sein würde. Immerhin war er derjenige, der bei Nacht den Befehl zum Angriff auf Südossetien gab und so den Konflikt provozierte.

Ganz witzig meint sich „Die Welt“, indem sie einerseits auf Saakaschwili schimpft – das übernimmt Manfred Quiring (Link):

Gröber kann man die Tatsachen kaum verdrehen.

und andererseits – im Leitartikel von Richard Herzinger (Link) – die Schuldfrage richtig stellt:

Zum ersten Mal seit dem Ende der Sowjetunion drangen russische Truppen wieder in das Staatsgebiet einer souveränen Nation ein. Und mit der offiziellen Anerkennung der Scheineigenstaatlichkeit der beiden Provinzen durch Russland erfolgte die erste De-facto-Annexion fremden Territoriums durch Moskau seit Ende des Zweiten Weltkriegs. […] Das Wiederaufflackern des Konfliktes zeigt jedoch drastisch, dass sich auch unter Obama schroffe Interessengegensätze zwischen Russland und dem Westen nicht in Luft aufgelöst haben. Umso mehr darf der Westen in Georgien nicht nachgeben. Er muss mit weitaus offensiveren diplomatischen Mitteln als bisher auf eine Lösung des Streits um die abtrünnigen Provinzen hinwirken, die ein tragfähiges Autonomiestatut für sie mit der Wiederherstellung der territorialen Integrität Georgiens verbindet. Zugleich muss der Westen jedem Anschein entgegentreten, er gebe Georgien an die russische Einflusssphäre preis. Das hätte fatale Auswirkungen auf das Vertrauen anderer einstiger Sowjetrepubliken und Satellitenstaaten, bis hin zu den baltischen und osteuropäischen Ländern, in die westlichen Sicherheitsversprechen. Nato-Generalsekretär Rasmussen, der Russland gemahnt hat, die Souveränität seiner Nachbarn zu respektieren, und US-Vizepräsident Joe Biden, der bei seinem Besuch in Tiflis das Recht Georgiens unterstrich, der Nato beizutreten, haben deshalb die richtigen Signale gesetzt. […] Es war richtig, dass Joe Biden in seiner Rede vor dem Parlament in Tiflis bei der umstrittenen georgischen Regierung entschiedenere Schritte in Richtung echter Demokratie angemahnt hat. Doch gerade diese könnten unter dem Schirm des Mitgliedschaftsaktionsplans (MAP) der Nato wesentlich intensiviert werden. Die Ukraine und Georgien möglichst bald in den MAP aufzunehmen wäre der Stabilität in der Region förderlich. Ängstliche Rücksicht auf Russlands Dominanzanspruch hingegen bewirkte das Gegenteil.

Ein authentische Stimme der Wahrheit darf nur in der „Presse“ komplett ertönen – im Interview mit dem richtigen Experten Pawel Felgenhauer (Link):

Der Kreml sagt sich, nach einem halben Jahr wird der Westen wieder mit uns sprechen. Nach dem letzten Krieg gab es auch Kritik. Dann hat der Westen sich angepasst und erklärt, mit Russland gebe es wichtige Fragen zu besprechen. Die schwache Antwort des Westens auf den russischen Angriff im vergangenen Jahr spornt Russland zu einer Fortsetzung an. […] Ich habe persönlich mit Heidi Tagliavini, der Vorsitzenden der EU-Kommission gesprochen, die den Kriegsbeginn im letzten Jahr untersucht. Sie hat mir gegenüber erklärt, dass die Veröffentlichung im deutschen Nachrichtenmagazin „Spiegel“, wonach die EU-Kommission angeblich herausgefunden hat, Georgien habe den Krieg begonnen, nicht den Tatsachen entspreche. Der „Spiegel“-Bericht sei Unsinn und wahrscheinlich von Moskau bezahlt.

Natürlich haben sich auch die Georgier auf den Krieg vorbereitet. Von georgischer Seite war es aber eine Improvisation, ausgelöst durch eine russisch-ossetische Provokation. Russland hat seine militärische Aggression ein halbes Jahr lang vorbereitet.

Es gibt noch mehr solche Stimmen, auch in Russland, sie werden nicht gehört und nicht übersetzt, zum Beispiel von Andrei Illarionov, warum nur?

 

Sozialismen, Kommunismen… Mittwoch, 26. November 2008

Wie immer, auf Umwegen findet man etwas bis dato Unbekanntes. Mit einem Interview stellt „Die Welt“ den ach-wie-linken Schriftsteller Ditmar Dath vor (Link). Es wird geplaudert. Unter anderem:

Für mich, den linken Westler, war die DDR vor allem die Garantie dafür, dass meine Regierung sich ihren eigenen Linken gegenüber nicht allzu schlecht benimmt: Man schlägt die Gattin nicht vor den Augen der feministischen Nachbarin. Was jener Staat für Nachteile hatte, steht überall zu lesen; die Vorteile aber stehen nur bei den größten deutschen Schriftstellern mehrerer letzter Jahrzehnte, Peter Hacks und Ronald M. Schernikau.

Von Hacks habe ich früher einiges gelesen, von Schernikau habe ich erst jetzt also erfahren und mich im Internet informiert. Alle drei – Dath, Hacks, Schernikau – sind Literaten, die von der Zeitschrift „Konkret“ promotet werden.
Unterm Strich und in Kürze: Schon wieder ein ästhetischer Blick auf die Geschichte, die Gegenwart und die Zukunft. Die Realität wird ausgeblendet oder neu gedichtet. Dazu der Pathos eines Weltverstehers und -verbesserers.

Dann muss man wohl wiederholen:

Es gab nie einen Sozialismus.
Es gibt keinen Sozialismus.
Es wird nie einen geben. Genauso mit einem Kommunismus.

Die Utopien – wie auch Antiutopien – sind dazu da, zum Nachdenken und vielleicht sogar zum Handeln zu animieren. In der Pubertät und Adoleszenz mehr als später. Nur dass es nicht weh tut. Ich meine, selbst nicht und den anderen erst recht nicht. Diese Mantras sollten sich einige vielleicht öfter wiederholen.

 

Der sterbende Qualitätsjournalismus Dienstag, 4. November 2008

Filed under: Blogging,Deutschland,Die Welt,Medien — peet @ 15:13 Uhr
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… ist also immer noch schneller und informativer als Blogger: Über eine Tagung in Potsdam konnte ich nur einen gedruckten Beitrag finden und keinen Blogeintrag. Und das zum Thema „Die Zukunft des (Print-)Journalismus in der digitalen Medienwelt“. Waren keine Blogger dabei?

Wie auch immer, das, was Kai-Hinrich Renner darüber berichtet, ist lesenswert. Unter anderem (Link):

Philip Meyer, Journalismusprofessor an der University of North Carolina, rechnet damit, dass die letzte Ausgabe einer Papierzeitung spätestens 2040 herauskommt.

Oder:

Das Modell Pro Publica ist laut Kramp und Weichert allerdings nicht direkt auf Deutschland übertragbar, da es hierzulande kein mit den USA vergleichbares Mäzenatentum gebe.

 

Warten auf Beckett Samstag, 8. April 2006

Filed under: Die Welt,Humor,Literatur,NZZ,Theater — peet @ 14:45 Uhr
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In Zeitungen von heute steht viel zum Jubiläum von Samuel Beckett. Einige Literaten sind selbstredend, ich meine, sie sagen mehr über sich selbst (ich zitiere aus der „Welt“ und NZZ):

Elfride Jelinek

Beckett ist für mich der Autor der radikalen Reduktion. Das macht ihn zu einem sehr männlichen Autor, denn die Souveränität, etwas wegzunehmen, indem man erschafft, hat die Frau nicht und bekommt sie auch nicht.

Joachim Unseld

Mir ist vom Whiskey und der Hitze schon etwas mulmig, Beckett ist nichts anzumerken. Das Zimmer ist völlig verraucht und unser Gespräch inzwischen weit entfernt vom Thema Literatur beim Sport gelandet. „Bum Bum Becker“ hat es ihm angetan, zum Beispiel. Welchen Sport ich mache. Schwimmen. Und seit neuestem für die Gesundheit Yoga. Beckett zeigt sich amüsiert: Da würde man doch auf dem Kopf stehen und ob ich das könne? Ich nicke. Er fragt: „Hier?“ – „Wie: Hier?“, frage ich zurück. „Na, hier eben.“ Und er deutet lächelnd vor sich auf den Dielenboden. „Hier?“ frage ich erneut „Aber ja!“ bestimmt er: Ich habe nichts anderes zu tun, als mich in einem Pariser Altersheim und mit drei Gläsern Whiskey im Blut vor dem großen Autor und Nobelpreisträger Samuel Beckett auf den Kopf zu stellen. Beckett betrachtet den Kopfstand mit fachmännischem Interesse. Darauf stoßen wir – zurück auf den Füßen – gleich nochmal an.

Jean-Philippe Toussaint

Anfang der achtziger Jahre schrieb ich einen Brief an Samuel Beckett. Ich erklärte ihm, dass ich mich als Schriftsteller versuchte, fügte an, vermutlich wendeten sich viele Unbekannte an ihn, und statt ihn um sein Urteil über einen meiner Texte zu bitten, schlug ich ihm eine Partie Fernschach per Brief vor, bei der ein Theaterstück von mir auf dem Spiel stehen sollte. Gewänne ich, würde er das Stück lesen und mir seine Meinung dazu sagen; gewänne er, würde ich selber mit ausgeruhtem Kopf das Stück nochmals durchgehen. Mein Brief endete so: Falls ja, 1. e4. Postwendend antwortete Beckett: Schwarz gibt auf. Schicken Sie das Stück. Herzlich, Samuel Beckett.

Ich schickte ihm das Stück, und nach einer oder zwei Wochen meldete er sich erneut: Er hatte das Stück gelesen und riet mir, es zu kürzen.

So viel zu Beckett. :-)

 

Mein „Munich“ Sonntag, 19. März 2006

Die breite, sehr widersprüchliche Palette der Meinungen und Wertungen zu dem Film „München“ (2005, im Original Munich) von Stephen Spielberg bietet die Aufgabe an, diese bunte Mischung zu ordnen.

Was fällt auf? Sehr wenige Zuschauer und Kritiker sind mit dem Film zufrieden. Sowohl künstlerische Bewertung als auch die Lesart der politischen Botschaft tendiert eher zu negativen Zahlen, wäre eine Benotung möglich. Spielberg wird beschuldigt, jeweils dem anderen zuzuspielen, dem Gegner der vermeintlichen Partei des Schreibenden. Liegt es an der Materie oder an dem Film selbst?

Ich begrenze mich auf die folgenden Themen: Realitätsnähe, der Umgang mit dem Bösen, Auffassung der Motive der handelnden Personen, Gewichtung der dargestellten Protagonisten.

Realitätsnähe

Das Original beginnt mit der Zeile „Inspired by Real Events”, die deutsche Version sagt zu uns „Nach wahren Begebenheiten“. Den Satz kann man nur doppeldeutig verstehen – einerseits-andererseits. Begebenheiten seien als Inspirationsquelle verarbeitet worden, könnte man zusammenfassen. Das würde bedeuten – Ereignisse seien historisch wahrhaft dargestellt, die Interpretation der menschlichen Gefühle mag wohl vom Autor stammen. Dem ist leider nicht so. Die gezeigte Story ist unterm Strich nicht wahr.
Nicht einmal die Darstellung des Attentats ist wahrhaftig. Sie ist nicht komplett, sondern tendenziös und deswegen verzerrt. Der Vergleich mit zwei Büchern zeigt deutlich, es gibt keine Zweifel. Bei dem Spielberg-Buch von George Jonas geht es um die zum Teil unbestätigte, auf den Gerüchten basierende Zusammenfassung in dem Stil einer Boulevardjournalistik. Beim Buch von Aaron J.Klein dagegen geht es um eine fundierte Recherche. Der prinzipielle Unterschied zwischen dem Film und den genannten Büchern ist allerdings nicht vorlagebedingt, sondern liegt in der Vorauswahl des Materials begründet. Was wird gezeigt und was nicht – das ist entscheidend, beeinflusst die Zuschauer am stärksten. Ich würde nicht so sehr darauf eingehen, dass die Drehorte meist nicht den Originalschauplätzen entsprechen:

Das meiste haben wir auf Malta gedreht, ein wenig auch in New York und Paris.

Der erste Film nach dem Jonas-Buch „Sword of Gideon“ (1986, Regisseur Michael Anderson) wurde nicht in Ungarn gedreht, sondern an den jeweiligen Orten der Geschehnisse, ist aber viel glaubwürdiger nicht deswegen, sondern weil die Intention der Vorlage eins zu eins übernommen wurde. Georg Jonas nahm nicht zu viel auf sich und verzichtete in seinem Buch auf Deutungen der Hintergrundmotive.

Ich würde zum Beispiel heute darauf bestehen, dass der damalige Dialog zwischen den Regierungen Israels und der BRD dargestellt werden sollte – nämlich um zu zeigen, wie es dazu gekommen ist, dass die Deutschen den Vorschlag der Israelis abgelehnt hatten, ein Antiterrorkommando hinzuschicken? Oder warum die Olympische Spiele kaum unterbrochen wurden (sehr klar im Dokumentarfilm „Ein Tag im September“, 1999, Regisseur Kevin Macdonald, gezeigt)? Oder wie es möglich war, drei gefasste Terroristen freipressen zu lassen? Ohne diese Punkte kann man die damalige Reaktion der israelischen Regierung kaum nachvollziehen. Die Darstellung der ersten Angelegenheit Genschers in seinen Erinnerungen

Wir taten keinen Schritt, ohne ihn [den israelischen Botschafter] zu informieren und seinen Rat einzuholen, zumal Israel mit Situationen wie diesen entschieden mehr Erfahrung hatte […]
Um die Mittagszeit kündigte der Botschafter an, ein israelischer Spezialist für Sicherheitsfragen werde nach München kommen. Es handele sich um einen hohen Sicherheitsexperten mit Begleiter. Etwa um 19 Uhr trafen beide in München ein. Mit ihm sprach ich wiederholt; meine Frage, ob Israel eigene Kräfte zur Befreiung einsetzen wolle, verneinte er […] (Hans-Dietrich Genscher: Erinnerungen, Siedler Verlag, Berlin 1995, Seite 151)

wurde durch das Buch von Aaron J. Klein widerlegt:

Brandt und Genscher lehnten höflich das Angebot der Premierministerin [Golda Meir] ab, eine Kommandoeinheit nach München zu schicken. (Aaron J. Klein, Die Rächer, München 2005, S.68 – Das Original heißt „Striking Back“.)

Wo sind Journalisten, die Genscher dazu eine Frage stellen würden? Genauso vermisse ich im Film andererseits die Darstellung einer Verwechslung, infolge derer ein unschuldiger Kellner in Dänemark getötet wurde. Ohne diesen Punkt kann man die (sowieso unrealistischen!) Selbstzweifel der israelischen Agenten gar nicht für bare Münze nehmen. Dazu die NZZ:

Wenn Israels Agenten Gewissensbisse zeigen dürften, kommentierte der ehemalige Mossad-Chef Efraim Halevy Spielbergs Film, dann spräche das nur für sie. „Ich wäre glücklich, wenn die Gegenseite auch nur ansatzweise dieselben Zweifel entwickeln würde.“

Im Film wird Einiges angedeutet, was nicht stimmt:

In the press notes, the filmmakers claim that though neither the Israeli government, nor the Mossad, had ever acknowledged the existence of such hit squads, several books and documentaries, utilizing inside sources, have since provided details of how the team carried out its goals. They cite two Israeli generals, who have publicly confirmed that the target assassination squads did exist: General Aharon Yariv in a 1993 documentary, and General Zvi Zamir in a 2001 interview for 60 Minutes.

Wie inzwischen schon viele Kritiker betont haben, werden israelische Agenten bei Spielberg als Amateure dargestellt, die weder mit Bomben umgehen noch für die eigene Sicherheit sorgen können:

Spielberg has created the five most inept assassin/spies in the history of movies. You don’t need espionage experience to know that after you shoot the guy next to the elevator of his apartment building, you don’t run away, you walk. They misjudge the strength of the explosives and nearly kill each other and many bystanders. They run back and forth between phone booths and bulky getaway cars.

Der Einsatzleiter wird von seinen eigenen Chefs im Film fast ausschliesslich nur unfair behandelt und ist beinahe neidisch auf die „nette“ Familie des französischen Paten. Der weitere Vergleich mit dem „Sword of Gideon“ würde zeigen: Spielberg hat sich auch hier weitgehend von seiner Vorlage entfernt. Bei Jonas und im „Sword of Gideon“ wird die Konfrontation zwischen Avner und „Samuels“ erst später eskalieren, der „Papa“ ist Avner gegenüber viel freundlicher. Hiermit sind wir schon beim nächsten Kapitel.

Umgang mit dem Bösen

Die genuine Widersprüchlichkeit des Films entspricht der Ästhetik oder besser gesagt der Weltanschauung Spielbergs. Man könnte darauf antworten, jeder sei widersprüchlich. Ja, das Problem liegt aber darin, dass Spielberg sich dazu nicht bekennt. „Munich“ wird von verschiedenen Seiten als 1) die Darstellung des nichtvorhandenen Bösen kritisiert oder 2) die Darstellung des allgegenwärtigen Bösen oder 3) die Darstellung der Israelis als des Bösen oder 4) die Darstellung der Palästinenser als des Bösen. Beispiele:

1) David Brooks schreibt in den „New York Times“ am 11.12.2005:

There is, above all, no evil. And that is the core of Spielberg’s fable. In his depiction of reality there are no people so committed to a murderous ideology that they are impervious to the sort of compromise and dialogue Spielberg puts such great faith in.

Because he will not admit the existence of evil, as it really exists, Spielberg gets reality wrong. Understandably, he doesn’t want to portray Palestinian terrorists as cartoon bad guys, but he simply doesn’t portray them. There’s one speech in which a Palestinian terrorist sounds like Mahmoud Abbas, but beyond that, the terrorists are marginal and opaque.

And because there is no evil, Spielberg gets the Israeli fighters wrong. Avner is an American image of what an Israeli hero should be. The real Israeli fighters tend to be harder and less sympathetic, and they are made that way by an awareness of the evil implacability of those who want to exterminate them.

Mark Steyn äußert sich im „National Review“ am 31.12.2005:

Spielberg’s movie says in this line of work there’s no good and evil, and terrorism and counter-terrorism are merely opposing balls in an endless Newton’s cradle of moral equivalence.
In the Spielberg-Kushner version, it’s an opportunity for a terrorist bonding moment, as Avner and an equally fetching young Palestinian lad enjoy their variation on the old ‚Silent-Night‘-on-the-Western-Front routine. Inside, the two groups are squabbling and retuning the radio back and forth from Arabic to, ah, less Arabic music until they find common ground and bridge the sectarian divide by settling on ‚Let’s Stay Together‘ by Al Green.

‚Humanising‘ the Arabs is fine, but the film works hard at dehumanising the Jews, not just because of the thin characterisations but also through the demands of the narrative arc: the Israelis are cold loners living in the shadows coolly observing Arabs taking their little girls to music lessons in Paris or chatting affably to the local storekeeper in Rome; then the Jews move in and clinically blow them to pieces. The Arabs have fully formed lives, the Israelis don’t.
Indeed, that’s what prevents this film being as anti-Jew as its detractors say it is. For all the tedious clichés about the cycle of violence, in the end Spielberg’s Jews are better than Spielberg’s Arabs – because the former feel bad about what they’re doing, and feeling bad – especially about your country – is the noblest of Hollywood virtues. And so crack Israeli agents gradually morph into the apotheosis of effete Western narcissistic moral passivity. Fine for movies, but you wouldn’t want to send them on a real job.

2) In seinem Weblog beobachtet ein Magdi am 22.1.2006:

The evil in Munch is pervasive. It exists in all of the principal characters. The film does not even attempt to make an assertion about the existence of evil, rather, it raises a debate about the point at which evil begins. As the nature of the assassins‘ violence escalates, many questions are raised. Does one engage in evil the moment one begins to operate under the notion that punishment is necessary? Or that punishment is only satisfactory if it is in some way equivalent to the original crime (an eye for an eye)? Or does evil begin when a bystander is killed? Is a man evil when he kills the wife of a murderer in order to kill the murderer, or is he immune to wickedness until he kills the murderer’s child as well? Does a man become evil when he not only kills a woman but leaves her naked body uncovered? Or is it when he kills an adolescent? Munich asks these questions. The fact that it gives us no easy answers is testament to the filmmakers‘ understanding of their material. Justice in itself is difficult to define. The exact moment at which justice becomes wickedness is imperceptible.
I believe, as Spielberg seems to, that both the Israelis and the Palestinians have a right to their home. There can be no easy resolution to this conflict, and the film offers none. However, the fact that many neo-conservatives have got their panties in a bundle over Munich means that, for me, the film is successful. Rather than preach, it debates. The fact that people like Krauthammer and Brooks are calling it a „travesty,“ and accusing it of „taking sides“ makes it quite clear that for these men, intelligent, empathetic debate is identical to moral equivalency. This makes Munich and its many questions absolutely necessary. Empathy does not necessarily arise from parallels (or moral equivalency); it arises from intelligent discourse, and is currently in very short supply.

3) Charles Krauthammer glänzt in der „Washington Post“ am 12/13.1.2006 (ich zitiere die deutsche Übersetzung aus der „Welt“ vom 26.1.2006):

In „München“ sind die israelischen Athleten nicht nur theatralische, sondern auch historische Dreingaben, Strichmännchen. Pflichtgemäß führt Spielberg ihre Namen an – Spielbergs Liste -, und das war’s: keine Geschichte, kein Kontext, keine menschlichen Beziehungen, gar nichts. Diese Israelis sind nur da, um getötet zu werden.
Die Palästinenser, die das Massaker planen und von Israel zur Strecke gebracht werden, erhalten – durch die Hingabe des begnadeten Filmhandwerkers – Struktur, Menschlichkeit, Tiefe und Geschichte. Der erste Palästinenser, den wir in dem Film kennenlernen, ist der hochgebildete Dichter, der eine öffentliche Lesung abhält, sich dann gegenüber einem italienischen Ladenbesitzer als großzügig erweist, ehe er von dem Juden ebenso kaltblütig wie brutal erschossen wird.
Dann ist da der ältere PLO-Mann, der von seiner sieben Jahre alten Tochter schwärmt, bevor er in die Luft gejagt wird. Keiner dieser Verschwörer wird dabei gezeigt, wie er den Anschlag von München oder irgendeine andere Greueltat plant. Sie werden in voller Blüte ihrer Menschlichkeit geschildert, und wie sie von den Juden rigoros ausgelöscht werden.
Doch die schockierendste israelische Brutalität ist die Szene mit der holländischen Prostituierten – unpolitisch, schön und Mitgefühl erheischend – die, natürlich nackt, von den längst halb wahnsinnigen Israelis erschossen wird, die noch eine private Rechnung zu begleichen haben. So macht man das in Israel nun mal, nehme ich an.
Noch ungeheuerlicher als die Manipulation durch die Charaktere ist die Propaganda der Dialoge. Das palästinensische Programm wird geradeheraus formuliert: Die Juden haben uns unser Land weggenommen, und wir werden jeden Israeli umbringen, den wir erwischen, damit wir es zurückbekommen. Diejenigen, die die israelische Sache repräsentieren, sagen das gleiche. So erklärt die Mutter des Helden, des erbarmungslosen, eingefleischten Zionisten: Wir brauchten eine Zuflucht. Wir nahmen sie uns. Was auch immer es kostet. Dann leiert sie die Namen von Familienmitgliedern herunter, die den Holocaust nicht überlebten.
Spielberg macht den Holocaust zum Motor des Zionismus und zu seiner Rechtfertigung. Das deckt sich natürlich genau mit der Sichtweise der Palästinenser. In der Tat entspricht dies genau der klassischen Lesart für Antizionisten
Die These des Films lautet, dass die ganze israelische Sache – also nicht nur der Rachefeldzug gegen die Hintermänner der Anschläge von 1972, sondern das gesamte Unterfangen Israel selbst – einem moralischen Bankrott gleichkommt. Diese Behauptung wird derart nachdrücklich vertreten, dass „München“ damit endet, wie der Chefauftragskiller des Mossad, innerlich zerrüttet durch seine Erfahrungen, Israel für immer verläßt. Und wo siedelt sich unser Held an? An dem einzigen Ort, an dem echte Juden mit Anstand und Feingefühl eine Heimat finden: im New Yorker Stadtteil Brooklyn.

Ich darf in dem Zusammenhang daran erinnern, dass im Nachspann zum „Sword of Gideon“ erzählt wird, Avner sei 1973 nach Israel zurückgekehrt, um im Krieg seinem Land wieder zu dienen.

Noch eine Pointe: Viele Medien weisen darauf hin, dass Spielberg keine Beteiligten an beiden Seiten konsultiert hat. Es stimmt nicht so ganz. Jonas erwähnt in seinen Notizen, dass sein „Avner“ von Spielbergs Team zur Beratung hinzugezogen wurde. Allerdings meint ein Kritiker wohl zu Recht:

[Der Planer des München-Attentats] Daoud need not fear that no one consulted him: Spielberg and Kushner are on it.

Oder wie ein anderer Kritiker sagt:

Whatever good intentions Spielberg may have had, his „docu-drama“ serves only the dangerous Islamist propaganda machine and may even inflame Jew-hatred.

4) In einem ausführlichen Artikel zeigt Elisabeth Lindner-Riegler sich kämpferisch am 28.2.2006 bei dem „Campo antiimperialista“:

Der Anschlag in München hat also keine Geschichte. Es kommt kein palästinensisches Volk vor, das 1948 und 1967 zu Hunderttausenden von seinem Land vertrieben wurde, das seit 1967 – also damals seit fünf Jahren – unter israelischer Besatzung lebte. Kein Wort davon, dass tausende Palästinenser in israelischen Gefängnissen gefoltert wurden, dass zur Bekämpfung des Widerstands – eines legitimen Widerstands gegen Besatzung – Zivilisten als „Kollateralschäden“ ermordet wurden oder Flüchtlingslager bombardiert wurden. Die brutalen ersten Jahre der Besatzung waren der direkte Hintergrund von München 1972. Aber diese Geschichte darf nicht erzählt werden, damit der zweistündige Rachefeldzug der Israelis menschlich verstanden und nachvollzogen werden kann.
München hat keine Vorgeschichte, die Palästinenser sind Terroristen. Zu sagen haben sie im Film wenig. In der englischen Fassung in den amerikanischen Kinos wird das Wenige, was auf Arabisch gesagt wird, nicht einmal untertitelt.
Breiten Raum hingegen bekommt das fünfköpfige israelische Killerteam, um zu vermitteln, dass sie Menschen sind und keine Killer. Sie haben für Israel ein ungeheuerliches Verbrechen zu sühnen – deshalb können sie weder Terroristen noch Killer sein. Ausgehend von dieser Prämisse sehen wir sie essen, lachen, scherzen oder auch später von gewissen Zweifeln geplagt. Wir haben es mit Menschen zu tun, mit denen man sich identifizieren kann. Avner ist zudem Vater eines kleinen Babys, nach dem er sich sehnt, das er nur übers Telefon hören kann. Wir werden Zeugen, wie er darüber in Tränen ausbricht. Alle Register werden gezogen um Avner, den Killer, nicht als Killer darzustellen.
Dieser Schluss ändert nichts an der Grundaussage des Films, nämlich dass Israel im Kampf gegen die „terroristischen Palästinenser“ jedes Recht hat, Rache zu nehmen. Im Gegenteil – die unmenschliche Politik bekommt noch menschlichere Züge. Die Schlussszene mit Avner und seinem Baby auf dem Arm macht die Identifikationsmöglichkeit vollkommen.
Spielberg hat dem rassistischen zionistischen Israel einen hervorragenden Dienst erwiesen, darüber hinaus auch noch George Bush in seinem „Kampf gegen den Terror“.
Wenn man den Film gesehen hat, wird man erkennen, dass es gerade um die absolute moralische Ungleichheit geht und dass Stimmen wie die Leiblers offensichtlich jeden noch so zarten Hauch an Kritik als Angriff auf ein moralisch absolut über jeden Zweifel erhabenes Israel sehen. Dennis Ross, ehemaliger Nahost-Gesandter der USA unter Bill Clinton, der für den Film in der jüdischen Gemeinde in Manhattan warb, sieht die Sache anders. “Munich” sei sehr wohl „ein guter Film für die Juden und für Israel.“ Was Israel betrifft, hat er leider Recht.

Nicht anders denkt ein Emanuel Goldman:

The essence of the film is that the Israelis are the good guys, the heroes. The story is told from their point of view, and we identify with them. Whatever else one may criticize about the politics, there is no escaping that. This is an enormous advantage for the Israelis, and vitiates the argument that the film suggests moral equivalence. If anything, it makes the Israelis even more sympathetic because it shows them caring about human life, in stark contrast to the way the terrorists are depicted. The actions of the Israelis are in response to horrific acts. The filmmakers chose to omit a reported real-life mistaken identity killing of a waiter in Norway; had the filmmakers wished to demonize the Israelis, including the killing of an innocent person would have certainly tarnished them. By contrast, the Israelis are depicted as taking pains to avoid killing innocent people. the Israelis are the heroes, the good guys, and the terrorists are monsters.

Noch deutlicher wird ein arabischer Politologe Joseph Massad:

Munich is not about these Palestinians; it is emphatically about Israeli Jews and Israeli terrorism. Munich poses moral questions about terrorist methods and whether the end justifies the means as it chronicles the pangs of conscience troubling Israeli terrorists while they murder Palestinian poets, writers, and politicians across Europe and in Lebanon. Spielberg, who is at any rate an active participant in such media depictions, humanizes Israeli terrorists in Munich but expectedly not the Palestinian terrorists who are portrayed as having no conscience.

Genauso:

So now the real challenge for Spielberg. A Muslim friend once wrote to me to recommend Schindler’s List, but asked if the director would continue the story with an epic about the Palestinian dispossession which followed the arrival of Schindler’s refugees in Palestine. Instead of that, Spielberg has jumped 14 years to Munich, saying in an interview that the real enemy in the Middle East is “intransigence.” It’s not. The real enemy is taking other people’s land away from them.

UPDATE: Ähnlich sieht den Film auch „as’ad“, der mehrere Vergeltungsaktionen der israelischen Armee benennt (Link).

Abschließend können wir sagen, die Botschaft des Films ist so undeutlich, dass jede Partei in ihm etwas Anderes, eben jeweils Anderes sieht. Ist es ästhetisch vertretbar? Das Böse spielt bei Spielberg von Anfang an eine besondere Rolle. In seinem ersten Film („Duell“) war der riesengroße Lastwagen das Böse, sein menschlicher Fahrer wurde nie gezeigt. In „Schindlers Liste“ wurden Täter und Opfer unterschiedlich gezeigt – die Opfer nur leidend, weil das Böse übermächtig ist. Die Bösen haben nur negative Züge. Genauso im „Soldat James Ryan“. In diesen beiden Filmen wird die Hauptperson als in sich zweifelnde zerspaltene Persönlichkeit gezeigt. Die moralische Botschaft sowie der beträchtliche Schuss vom amerikanischen Patriotismus wird über den eigentlichen Inhalt der Story drauf gesetzt – als eine besondere Intention des Autors.

Auch im „Munich“ zwingt der Regisseur uns, mit seinem Blick Ereignisse zu sehen. Szenen in Israel haben eine andere, traumatisch bedeckte Sepiafarbe, sie kommen aus einer anderen, surrealen Welt. Szenen am Tisch werden metaphorisch groß ausgespielt – der Vergleich zwischen dem Essen beim französichen Paten und dem der israelischen Agenten untereinander führt zur selben Folgerung wie die parallele Montage der Attentatsschnitte mit den Bildern des inneren Lebens des Avner bis zur Liebesszene fast am Ende des Films. Nämlich, das Gute ist hin, es ist nicht mehr da. Diese Folgerung ist pessimistisch, das Böse ist überwältigend, dringt durch. Die Spirale der Gewalt sei nicht zu stoppen, Twin Towers am Ende des Films sind deren prophetisches Zeichen.

Motive der handelnden Personen

So gut wie jeder Bericht über den Film geht davon aus, dass die israelische Tötungsaktion ein Akt der Rache sei. So wird die Position der Golda Meir im Film interpretiert, in vollem Einklang mit dem üblichen antisemitischen Ressentiment, es sei jüdisch, „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ zu fordern. Ein Beispiel von sehr-sehr vielen:

Es ist der von Golda Meir so bezeichnend als der „Zorn Gottes“ über die angeblichen Feinde Israels heraufbeschworene Rachefeldzug. Es ist eine Geschichte von Blut und Gewalt.
Es ist das alttestamentliche Prinzip Aug um Aug, Zahn um Zahn. Es ist die Geschichte von Rache und Vergeltung, die ihre Täter und Tatestäter mit sich zieht und letztlich in einem Zustand psychischer Gestörheit zementieren wird. Es ist die Sünde des Hochmuts, alles zu dürfen, die alles verspricht, wenig gibt, aber alles nimmt. Diese verhängnisvoll wirkenden Mechanismen aufzuzeigen, darum geht es Spielberg, nicht um Authentizität.

Der missionarisch denkende Franziskus von Ritter-Groenesteyn spricht in dem zitierten Beitrag weiter über „die Sinnlosigkeit und Heuchelei des israelischen Rachefeldzugs“. Es sei „ein Film, der auf drastische Weise aufzeigt, wohin es führt, wenn man nicht die Goldene Regel befolgt, die uns im Neuen Testament als Wegweiser für ein besseres Zusammenleben hinterlassen ist: „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen!“ Mt 7,12.“ Oder: „Ihr Tun“ lasse „aber ein kleines nunmehr vaterloses Mädchen einsam und allein in einer zerstörten Wohnung“ zurück.

Noch ein Beispiel. In seiner Homepage philosophiert Ulrich Behrens:

Die Bilder zeigen den Anti-Terror-Terror des israelischen Teams um Avner, sie zeigen das Auge-um-Auge-Prinzip ihres Handelns, das wiederum nur Ausfluss einer geradezu vollständigen Internalisierung der Legitimitätsideologie ist. Und das allerdings ähnelt nicht nur minimal an die rechtstheoretische, aber eben auch zutiefst politische Legitimitätstheorie Carl Schmitts: Die politischen Willensäußerungen eines Volkes, die gesetzlichen Regelungen, die dessen Regierung trifft, sind nicht einfach beliebig; sie sind Ausdruck der Existenz eines „gleichartigen Volkes” bzw. seiner werthaften Institutionen, Die Legalität (politischen) Handelns gründet nach dieser Theorie nicht mehr in demokratischen Verfahren, sondern in der Nation, der Rasse, der Ethnie, deren Existenz(recht) und Existenzsicherung, eben jenen undefinierbaren theoretischen Konstrukten, die einzig Legitimität begründen sollen und denen das Legalitätsprinzip untergeordnet werden soll. Golda Meir formuliert anfangs des Films genau dies.

Und weiter:

Spielberg rollt diese Verzahnung realer Ängste und grausamer Vergangenheitserfahrungen mit einer Legitimitätsideologie am Beispiel Avners auf. Avners Gruppe zerfällt, aber vor allem zerfällt Avner innerlich. Wenn er sich am Schluss entscheidet, mit seiner Frau und seiner Tochter in New York zu bleiben, statt nach Israel zurückzukehren – voller Angst um das Leben seiner Familie –, dann hat er sozusagen „zur Hälfte” die Spirale von Terror und Anti-Terror in sich bereits überwunden. Es ist diese seelische Verworfenheit, die eine zutiefst humane Gewissensentscheidung auslöst. Ephraim reagiert entsprechend: Ohne es zu sagen, kann man an seinen Augen ablesen, dass er meint, Avner habe den Kontext der Legitimitätsideologie verlassen. Er katapultiert Avner quasi mit einem Blick und einem „Nein” aus der israelischen Identität.

Es ließen sich – allerdings nicht auf Basis dieses Films – bei den Palästinensern ähnliche Strukturen aufzeigen. Darüber hinaus setzt Spielberg mit „München” seine Kritik an solchen Legitimitätsideologien insofern fort, als er bereits in „Minority Report”, in dem es um die Aburteilung von Menschen ging, die keines Verbrechens schuldig waren, sondern verurteilt wurden, weil sie den Willen zum Verbrechen hatten, deutliche Aussagen traft. Auch in „Minority Report” ging es um die staatlich legitimierte Ausübung von Gewalt ohne Legalitätsbasis vor dem Hintergrund einer Legitimitätsideologie, die den Staat als Wächter eines „homogenen Volkes” verkaufte.

Ein Blick in die Judaistik macht klar:

Eines der hartnäckigsten antijüdischen Vorurteile drückt sich in den Worten „Auge um Auge“ aus. Mit dieser angeblich aus der Thora stammenden Formel wird Juden bis heute vorgeworfen, Rache sei das Prinzip ihres Verständnisses von Gerechtigkeit, ihr Gott sei – im Unterschied zum „christlichen“ Gott – ein grausamer und rachsüchtiger Gott und Frieden mit dem Volk und Staat Israel deshalb niemals möglich.
Die Übersetzung „ajin tachat ajin“ (21:24) als „Auge um Auge“ ist vollkommen falsch. Sie widerspricht dem jüdischen Verständnis der Thora und ist meistens Ausdruck einer antisemitischen Grundeinstellung. Sie widerspiegelt häufig das Rechtsverständnis und die Rachsüchtigkeit der Person, welche die Thora falsch versteht und verurteilt.

Ist es möglich, den Film anders als nur problematisch zu verstehen?

Außerdem weisen (leider viel zu wenige) Kritiker darauf hin, dass Golda Meir nie Worte sagte, die im Film als authentisch präsentiert werden:

In a scene that never actually happened, Golda Meir justifies the mission of the agents she sends to carry out justice with the words, „Every civilization finds it necessary to negotiate compromises with its own values.“ Golda never said it because she understood that holding mass murderers responsible is not a compromise with civilized values, but the only way to insure that civilization survives.

Auch:

Entgegen dem gängigen Erklärungsmuster meint Zamir, die Tötung palästinensischer Terroristen nach den Olympischen Spielen von 1972 sei kein israelischer Racheakt gewesen. Der Geheimdienst habe nicht primär nach Verantwortlichen für das Massaker gesucht, sondern sich bemüht, die Infrastruktur der terroristischen Organisationen in Europa zu zerschlagen. Es sei ihm um «die Verhinderung künftiger Gefahren» gegangen.

Spielberg meint in einem Interview bezüglich der Finalszene:

There is no connection between the Israeli-Palestinian conflict and al-Qaeda. What I meant to say in the last frame is that now, unfortunately, it is time for America to face the hard choices Israel has been dealing with for years.

Dazu spottet britische Journalistin Melanie Phillips am 10.2.2006:

When Israelis kill their killers, their cause cannot be just because what they are wiping out is their own moral heritage. Resisting terror is therefore even worse than terror. What is the value of a Jewish life compared with clean Jewish hands? Jews don’t do killing. What Jews are supposed to do is die.
It is therefore not surprising that Spielberg, the committed American Jew, should occupy himself with recording the testimonies of Holocaust survivors, or making Shindler’s List. And these are indeed good works. But to claim piety by wrapping oneself in the shroud of the dead while denying the living the right to prevent themselves from being similarly exterminated is not good. It is disgusting.
With such a powerful and committed Jewish friend making the spiritual case for Israel’s annihilation, who needs enemies?

Sind christliche Motive gewolltes Mittel als eine moralische Botschaft im angeblich proisraelischen Film? Ich denke, Spielberg hat es eher unbewußt getan. Spielberg ist kein jüdischer Regisseur. Das muss allerdings bewußt gesagt werden.

Gewichtung der dargestellten Protagonisten

Die Gegenüberstellung verschiedener zum Teil sehr parteiischer Meinungen zeigt, wie wichtig die Darstellung der Figuren im Film ist. Sind israelische Athleten sympathisch, sind sie mehrdimensional gezeichnete Menschen oder nur Opfer (vgl. Schindlers Liste)? Sind palästinensische Terroristen nur böse Mörder ohne Hintergründe? Sind sympathische Opfer des israelischen Kommandos als Terrorplaner denkbar? Woran entstehen die Zweifel Avners – an der Angst, von der Gegenseite erwischt zu werden, von dem Anblick der sterbenden Auftragskillerin? Im „Sword of Gideon“ wird dieser Gewissensstrang ganz anders vorgestellt – durch zwei entscheidende Szenen. In der ersten sieht Avner das Leiden auf dem Gesicht des kleinen Mädchens, dessen Vater seine Gruppe gerade getötet hat. In der zweiten wird einer seiner Leute zum Helden und fällt einem Bombenanschlag zu Opfer, um die anderen zu schützen. Nichts dergleichen bei Spielberg.
Sein Avner wird paranoid, ohne dass wir etwas von seinen moralischen Skrupeln direkt erfahren. Er versagt in seinem eigenen Sinne.

Georg Jonas vermerkt dazu:

Spielberg’s „Munich“ follows the letter of my book closely enough. The spirit is almost the opposite. Vengeance holds there is a difference between terrorism and counterterrorism; „Munich“ suggests there isn’t. The book has no trouble telling an act of war from a war crime; the film finds it difficult. Spielberg’s movie worries about the moral trap of resisting terror; my book worries about the moral trap of not resisting it. Not demonizing human beings is dandy, but in their effort not to demonize humans, Spielberg and Kushner end up humanizing demons. The result isn’t so much a celluloid fable of moral equivalence, as a triumphant — indeed, orgasmic — battle hymn of the dove. Its climax has „Avner“ fornicating in a grotesque montage, intercut with violent visions of the Olympic hostage drama. The inspiration for it probably comes from the Syrian poet Nizar Qabbani, whom I quote in Vengeance, celebrating his new-found potency after Israel’s initial setbacks in the 1973 Yom Kippur War. Qabbani is sexually aroused by Arab warriors crossing the Suez Canal. Spielberg and Kushner see „Avner“ sexually aroused by the massacre at Munich. There’s no accounting for tastes.

Abschließen möchte ich mit einem bösen Witz:

Hannah Brown findet in der „Jerusalem Post“ vom 19.1.2006:

Although Spielberg criticizes the Israeli response to the Munich massacre (as well as the American response to 9/11?), the only other response he seems to be suggesting is to congratulate the PLO on its publicity coup.
you would think Spielberg had sold his soul to the devil to make his earlier films and that, with Munich, the devil has come to collect.

 

WAMS gegen FAZ: Gelungene Inszenierung Samstag, 18. Februar 2006

Filed under: Deutschland,Die Welt,FAZ,Medien,Theater — peet @ 19:09 Uhr
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Im „radikal subjektiven politischen Feuilleton“ der WAMS nutzt Alan Posener die Gelegenheit, um der FAZ eins auszuwischen. Also im Gegenteil zu dem, was ich hier heute geschrieben habe. Am Ende stellt er fest:

Darum wird sich, wetten, kein Journalist finden, der die gelungene Inszenierung, den endlich geglückten großen Tabubruch, den Ausbruch des Theaters aus dem selbstreferenziellen Kreislauf staatlich subventionierter Provokation der Steuerzahler loben wird.

Und weiter:

Immerhin weiß ich, was ich das nächste Mal tun werde, wenn ich im Zirkus aufgefordert werde, dem Zauberer bei seinen Tricks zu helfen.

So versteht ein politischer Journalist die Kunst des Theaters und den Sinn eines Feuilletons. Ich bin beileibe kein Freund der FAZ, aber von solchem „Radikalismus“ halte ich nicht viel. Sorry!

 

Vielversprechend Samstag, 21. Januar 2006

Ein neuer Name, kluger Text, empfehlenswert:

Emanuele Ottolenghi schreibt seit Jahren in English und Italienisch. Die Welt hat seinen Artikel vom Dezember 2005 jetzt in gekürzter Fassung übersetzt. Daraus:

Gnade, Reinheit, Erbsünde – christliche Vokabeln wie diese tauchen in der Rhetorik akademischer und journalistischer Debatten über die Geburt Israels regelmäßig auf.
Wenn aber die Brutalität, die Israel vorgeworfen wird, dem Projekt, das zu seiner Gründung führte, tatsächlich innewohnte, wie die Vorstellung der Erbsünde nahe legt – wie kann das dann überhaupt wieder gut gemacht werden? Sowohl logisch als auch gewissermaßen theologisch liegt das Heil in der politischen Entsprechung zur Konversion. Dieser Analyse zufolge wäre die Aufgabe seiner Identität als jüdischer Nationalstaat die Bedingung für Israels neues Leben im Zustand der Gnade.

Heute wie gestern ist der jüdische Partikularismus – damals der religiöse, jetzt der staatliche – ein Dorn in Europas Fleisch. Heute wie gestern hieße, den Dorn zu entfernen, sich vom Partikularismus abzuwenden und sich hinterher der herrschenden Form der Erlösung zuzuwenden: damals dem Christentum, jetzt den Lehren des humanistischen Liberalismus.

Vor wie nach der Aufklärung ist es dabei geblieben, daß Europas Eliten sich ihre guten und ihre schlechten Juden leisten. Es gibt solche, die sie vereinnahmen und feiern; und dann gibt es jene, die sie strafen und verdammen. Für die einen ist ein Ehrenplatz unter Europas Sonne frei. Von den anderen hat sich das offiziell pluralistische und tolerante Europa abgewandt.

Die Passagen über N.Chomsky sowie über B.Morris sind auch nicht schlecht… :-)