Sendungsbewusstsein

Kritische Auseinandersetzung mit den Medien

Eine RTL-Anekdote Mittwoch, 14. Juli 2010

Filed under: Blogging,Deutschland,Humor,Medien,TAZ — peet @ 15:50 Uhr
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die wunderbare Anekdote, die Evelyn Roll letztes Jahr in der SZ aufschrieb. Im Zuge der Veröffentlichung eines Buchs über Herbert Wehner hatte eine „Journalistin“ von RTL im Willy-Brandt-Haus angerufen und wollte mit Herbert Wehner verbunden werden. Der Referent fand’s lustig: „Tut mir sehr leid, Herr Wehner ist gerade in einem wichtigen Gespräch mit Franz Josef Strauß, da kann ich jetzt nicht stören.“ – Sie: „Okay, dann darf ich also später noch einmal anrufen?“ [Link]

 

An was erinnert die Wortwahl der islamischen Organisationen in Deutschland? Freitag, 31. Juli 2009

Filed under: Bremen,Deutschland,Islam,Politik,TAZ — peet @ 11:48 Uhr
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Heute bekam ich auf dem Umweg eine Petition der islamischen Organisationen (die Schura offensichtlich im Vordergrund) in Bremen und Niedersachsen. Ein merkwürdiger Text: Einerseits viel Ähnlichkeit zu den kampflustigen Produkten der kommunistischen Ideologie, andererseits enormes Selbstbemitleiden. Einerseits sehr aggressiv im Ton der Forderungen, andererseits völlig verzweifelt und unfähig in der Argumentation. Insbesondere unheimlich ist eine absolute Einseitigkeit und Unfähigkeit zur Selbskritik. Am Randes sei noch vermerkt, dass Stephan Kramer, der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, als einziger Fürsprecher zweimal zitiert wird. Und nun einige Fragmente aus dem Aufruf:

Mit großer Besorgnis beobachten wir einen immer stärker werdenden antiislamischen Rassismus in
unserer Gesellschaft, in der die ganze Palette antiislamischer Ressentiments zum Ausdruck kommen! […] Die Bundeskanzlerin und der Außenminister haben sich erst zehn Tage nach dem Mord an Marwa El-Sherbini dazu geäußert. Die Bremische Politik/Regierung hat, unserer Kenntnis nach, bisher überhaupt nicht auf dieses schreckliche Ereignis reagiert, oder den Kontakt zu den islamischen Organisationen gesucht. […]
Marwa El-Sherbini ist das bisher tragischste Opfer rassistischer Agitationen gegen den Islam und die Muslime und insbesondere gegen muslimische Frauen und Mädchen, die tagtäglich Demütigungen, Beschimpfungen, Denunziationen und Diskriminierungen in unserer Gesellschaft ausgesetzt sind. […] Der mit allen Mitteln geführte Kampf von Politkern für ein Verbot des Kopftuchs im öffentlichen Dienst oder die Diffamierung einer islamischen Identität durch die Verfassungsschutzämter ist das falsche Signal an die Gesellschaft und haben erheblich dazu beigetragen, dieses Klima des Hasses gegen den Islam und die Muslime zu schaffen. […] Es drängt sich der Eindruck auf, daß die staatlichen Sicherheitsorgane insbesondere die Verfassungsschutzämter sich mit ihrer negativen Interpretationspraxis islamischen Handelns und Wirkens in der Gesellschaft, inzwischen auf die Bekämpfung einer selbstbewussten islamischen Identität und Stärkung von Vorurteilen gegenüber dem Islam konzentriert haben, um so ihre Daseinsberechtigung zu legitimieren. […]
Die Verantwortungsträger aus Politik und Verwaltung aber auch „Intellektuelle“ wie Ralph Giordano und Henryk M- Broder, „profilierte“ IslamkritikerInnen wie Necla Kelek und Seyran Ates und die Vertreter des „investigativen“ Journalismus und der Sensationspresse, sollten sich darüber im Klaren sein, dass dieser „Kampf“ um die öffentliche Sichtbarkeit islamischer Religiosität, schlicht stigmatisierend ist und wegen der Dämonisierung durch Gesetz und Verwaltungsapparat erst den Weg für diese Gewalt und Diskriminierung ebnet. […] Diese unheilvolle Entwicklung macht es notwendig konkrete Forderungen an die “tragenden” Institutionen der Gesellschaft zu stellen, deren Umsetzung von essentieller Bedeutung für die weitere Entwicklung und den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft sind:
Deutschland muss spätestens jetzt hart mit sich selbst ins Gericht gehen. Es gilt nicht nur, die Hetzer zu isolieren und zu bestrafen, sondern auch nachhaltige Aufklärungsarbeit zu leisten sowie das Wissen über die moslemische Bevölkerung, ihre Kultur, ihre Religion und ihre Bräuche zu verbreiten. […]
Das Tragen des Kopftuches ist kein Zeichen der Intoleranz oder Abgrenzung, sondern Ausdruck des religiösen Bekenntnisses, mit dem die muslimischen Frauen bereit sind, sich aktiv in die Gesellschaft zu integrieren. Die steigende Zahl Kopftuch tragender muslimischer Frauen an den Hochschulen, Universitäten, im Arbeitsleben und auch im Schuldienst, belegt anschaulich, dass die Integration durch das Kopftuch nicht behindert wird. Gerade mit dem Kopftuch ermöglicht der Islam den muslimischen Frauen die Möglichkeit sich frei an gesellschaftlichem Leben, Politik, Bildung und Ausbildung, Arbeitsleben, usw. zu beteiligen.
Die Muslime haben für den geforderten Dialog ALLES getan was ihnen möglich ist. […] Sie artikulieren Ihre Forderung nach gesellschaftlicher und politischer Anerkennung als Religionsgemeinschaft und Gleichstellung mit den Kirchen, was ihnen mit arroganten und fadenscheinigen Begründungen seit über zwei Jahrzehnten in Bremen verwehrt wird. […]
Die Parteien müssen sich endlich auch in Bezug auf die Muslime und deren Integration in die Gesellschaft klar und deutlich erklären und die Belange und Forderungen der Muslime und ihrer Organisationen in ihr Parteiprogramm aufnehmen. […] Den Beziehungen zwischen Staat und Muslimen muss eine beiderseits verbindliche und rechtliche
Grundlage gegeben werden. Eine vertragliche Vereinbarung würde beiderseits Rechtssicherheit schaffen: Sicherheit über die Anerkennung einer gemeinsamen Werteordnung, Sicherheit über institutionelle Anerkennung und gesellschaftliche Teilhabe. Das Projekt eines Staatsvertrages zwischen Senat und Islam, mit dem Ziel der Gewährung der Körperschaftsrechte, würde zudem deutlich machen, daß die Muslime ein integraler Bestandteil der Gesellschaft sind und helfen gesellschaftliche Fehlentwicklungen frühzeitig entgegenzutreten. Es kann sich zudem als Katalysator erweisen auf Gesamtlösungen gesellschaftlicher Probleme hinzuarbeiten.

UPDATE: Ein Kommentar von Eiken Bruhn in der TAZ ist gut ausgeglichen (Link).

 

Wohin mit dem „Freitag“? Samstag, 25. Juli 2009

Neulich kam es in diesem Blog zu einem offenen und durchaus interessanten Austausch über die Hintergründe in der schönen neuen Medienwelt, speziell am Beispiel der Zeitung „Freitag“. Jetzt hab ich ein programmartiges Interview mit dem neuen Chef der Redaktion gefunden, der seine Arbeit als Investition versteht (Link). Sein Name ist Jakob Augstein, und er erzählt in dem Interview erstaunlich wenig über seinen Vater. Ich würde sagen, zu wenig Boulevard.

Sein Programm ist allerdings ein linksliberales Boulevard. Mit keinem Wort wird im Interview die TAZ erwähnt, seltsam. Dafür spricht er sehr viel über die „Bild“, und das mit Bewunderung. Weiter folgen Fragmente aus diesem Interview:

Die Leute haben relativ schnell begriffen, worum es hier geht, nämlich in Kontakt mit der Redaktion zu treten und sich über relevante gesellschaftspolitische Themen auseinanderzusetzen. Wir haben in dieser Community praktisch keinen Bedarf an ordnenden Maßnahmen. Es gibt keinen Stress, es gibt kaum Äußerungen, die rechtlich oder moralisch nicht gehen, wir müssen nichts herausfiltern – was ich verblüffend finde. Das zeigt auch, dass das Netz inzwischen ein zivilisierter Ort ist, wo Leute ganz normal zusammenkommen und anständig miteinander reden. Natürlich fetzen die sich manchmal oder wir fetzen uns mit denen. Das finde ich dann aber auch gut, weil ich Streit mag und diesen geradezu suche. […]

Ich wette hier mit jedem: Das wird sich ändern, sobald die Neue Rechte sowie Vertreter aller extremen Positionen diese Community für sich entdecken. Der beschriebene Zustand spiegelt eine geringe Bedeutung der Seite im Netz.

Wir versuchen natürlich schon ein linksliberales Medium zu machen und in der politischen Berichterstattung andere Akzente zu setzen, andere Haltungen zu vertreten als das in den Zeitungen sonst möglich wäre. Viele Sachen, die wir über Außenpolitik, über Russland, über die Bewertung der israelischen Politik oder über die Ursachen der Krise schreiben, wären wahrscheinlich in anderen relevanten Zeitungen nicht druckbar, weil es im redaktionspolitischen Kontext nicht durchkäme. […]

Ich befürchte, dass es hier um eine Selbsttäuschung geht. Die gemeinten Positionen entsprechen vollkommen dem Mainstream. Die Unterstützung der „gelenkten“ Demokratie in Russland und Israel-Bashing sind nun mal Mainstream.

Wo ist denn der relevante publizistische Bereich am linken Rand? Der ist komplett leer, da gibt es nichts mehr. Wir haben dort nur noch irrelevante Zeitungen wie das „Neue Deutschland“ oder die „Junge Welt“, mit denen wir uns aber nicht vergleichen, weil sie anders funktionieren und ideologisch sind. Wir sind keine Ideologen. […]

Jungle World und Konkret werden nicht genannt, hmm, warum nur?

Wir machen hier ja keine Ideologie sondern Journalismus, das unterscheidet uns vom alten Freitag und von den Zeitungen, die jenseits dieser Grenze liegen. Ich kann mit Springer völlig entspannt umgehen, auch mit irgendwelchen Industrieunternehmen, wenn sie bei uns Anzeigen schalten würden. Ich kämpfe nicht gegen Springer, wir kämpfen auch nicht gegen die Atomindustrie. Das ist nicht unser Job, wir sind Journalisten. […]
ich bin ein großer Freund von Boulevard. Ich finde das wichtig und richtig und ich bedaure, dass es in Deutschland keine linke Boulevardzeitung gibt. […]
Ich finde härteren Boulevard, so wie er in England praktiziert wird, besser. Dazu stehe ich. […]

Wie war es mit „Vanity Fair“ in Deutschland? Wie läuft es mit „Cicero“? Und noch einmal sei hier auch die TAZ erwähnt, auch deren Annäherung an die „Bild“, die schon einer Verschmelzung nahe kommt. Die Boulevardisierung ist die Losung. Sehr linksliberal, he-he.

 

Was Broder darf, was Friedman nicht kann Montag, 19. November 2007

Seit Michel Friedman mit Horst Mahler auf den Seiten der Zeitschrift „Vanity Fair“ gesprochen hat und insbesondere seit der bissigen Verurteilung dieses Textes von Henryk Broder bei Spiegel online (Link), hört eine Menge von Lesern nicht auf, auf ein sich zunehmend zu einem Popanz auswachsendes Interview Broders aus dem Jahre 1992 anzuspielen. Ich habe etwas länger gewartet, dass einer dieser moralischen Apostel den Text einmal einbringen und analysieren würde. Nein, es wird nur drum-herum nebulös gemeckert. Da wurde ich doch neugierig und habe heute den Text vom 19.5.1992 aus der TAZ gelesen.

Broder spricht darin mit Franz Schönhuber, lässt ihn über die feinen Unterschiede zwischen Faschisten und Nationalsozialisten schwafeln, sich von den ungebildeten und nicht feinen Parteimitgliedern oder Jörg Haider distanzieren. Und doch gibt es da Momente, wo Broder sich durchsetzt und Schönhuber dorthin bringt, wo er ihn haben will. Ich zitiere:

Wie halten Sie es mit Edmund Stoiber, der vor einiger Zeit von der „durchraßten Gesellschaft“ gesprochen hat?

Wenn ich so etwas gesagt hätte, wäre ich wahrscheinlich eingesperrt worden. Es ist unglaublich, die Heuchelei der etablierten Parteien. Jeder Satz, den ich in der Frage des Asyls vor fünf Jahren gesagt habe, wurde als chauvinistisch, rassistisch, faschistisch verschrien. Heute findet kein Mensch etwas dabei, wenn Herr Gauweiler sagt, das Boot ist nicht nur voll, das Boot droht zu kentern. Oder wenn Herr Farthmann von der SPD meint, man sollte die Asylanten beim Kopf und am Hintern packen und rausschmeißen. Das geht weit über das hinaus, was ich jemals gedacht und gefordert habe. Ich habe nie von der „durchraßten Gesellschaft“ gesprochen, dieser Satz ist per se falsch und auch inhuman. Ich bin auch bei meinen Parteifreunden öfter angeeckt, wenn ich auf die Frage „Wer soll ein Deutscher sein?“ gesagt habe: „Wer einen deutschen Paß hat, unabhängig von der Hautfarbe“, das heißt, es kann ein Schwarzer genau so Deutscher sein wie ein Gelber oder was auch immer.

Sie haben einmal gesagt: „Eigentlich regieren wir ,Republikaner‘ schon ein wenig mit.“

Ja, nach den letzten Wahlerfolgen sind wir praktisch mit auf der Regierungsbank. Ich sitze dort wie eine Schattenfigur, ohne dort zu sein. Was die Parteien heute in der Frage der Verbrechensbekämpfung, über die Änderung des Asylrechts sagen, sagen sie nicht aus eigenem Antrieb, sondern weil es mich gibt und weil die „Republikaner“ erfolgreich sind.

Diese Direktheit der Parallelen vermisse ich beim Friedman-Mahler-Gespräch. Mahler kann bei Friedman alles tun, was er will, es wird nur und ausschließlich widerliches Zeug ausgesprochen. Broder dagegen spielt ziemlich geschickt mit der Eitelkeit Schönhubers. Er hält die Fäden des Gesprächs in der Hand. Er lässt Schönhuber das aussagen, was auch in den Geschichtsbüchern steht, nur in diesem Fall als Zeuge von innen:

ich bin ein Handwerkersohn. Mein Vater war Nationalsozialist aus einem ganz einfachen Grunde: Er war ein Anhänger von Strasser, weil er damals auf die soziale Komponente der NSDAP setzte…

… auf den sogenannten linken Flügel.

Er setzte auf diesen Flügel. Strasser sprach von der antikapitalistischen Sehnsucht des deutschen Volkes. Das hat meinem Vater imponiert. Ich bin kein Volksführer der oberen Zehntausend, ich vertrete das Volk.

Oder:

Ich kam vom Krieg wieder, kann mich noch erinnern, wie ich die ersten Nächte in München im Englischen Garten schlief und von Polizisten verjagt wurde. Ich wollte studieren, konnte aber nicht. Ich wollte eigentlich ganz was anderes werden: Ich wäre so gerne Historiker geworden, nun werde ich vielleicht, wenn’s hochkommt, eine Fußnote der Geschichte. Gut, ist auch was. Ich lernte damals Leute aus dem SPD-Lager kennen, aus dem Kreis um Schumacher. Ich kann mich noch genau an den berühmten Auftritt von Schumacher erinnern, als er den Satz sagte, „Herr Adenauer, Sie sind der Kanzler der Alliierten!“ Es hat mir gefallen, daß Schumacher patriotisch dachte. Und so stand ich damals als Journalist auf der linken Seite, was mir heute immer wieder vorgehalten wird.

Das sind auch heute noch Themen von Broder, nicht von Reps wohlgemerkt.

Nicht alle Provokationen gelingen Broder dabei:

Ich sehe mich nicht als klassischen Politiker, ich sehe mich als einen Visionär. […]

Marx war ein Visionär, Hitler ebenso. Visionär heißt, daß einer weit nach vorne blickt, mehr nicht.

Ich meine noch etwas anderes. Ich habe in den Auseinandersetzungen innerhalb der Partei wirklich an mich geglaubt. Die Leute fragten, wie schafft er das, von den Medien angegriffen, in der Partei gejagt?

Hier konnte Schönhuber sich herausreden, Broder dagegen sieht platt aus. Hier auch:

Stimmt es, daß viele ehemalige SED-Leute sich nun bei den „Republikanern“ anmelden?

Das müßte ich noch verifizieren. Ich hielte es aber für verhängnisvoll, wenn wir eine Art „zweite Entnazifizierung“ machen würden, wenn wir also die Mitglieder der Blockparteien akzeptieren würden, aber nicht die Leute, die in der SED waren. Ich halte die Blockflöten für genauso schlimm. Ich bin nicht bereit, Tausende von Menschen auszugrenzen, allerdings verlange ich von jedem eine schriftliche Erklärung, daß er nicht bei der Stasi war.

Ein bißchen seltsam ist es schon, wenn ehemalige Staatskommunisten ihre politische Heimat jetzt bei den „Republikanern“ entdecken.

Ein überzeugter Kommunist ist mir lieber als ein Blockflötist. Und wenn ich mir die so anschaue da drüben, die Herren von den Blockparteien, das ist wirklich die letzte Garnitur, moralisch und charakterlich. Mit denen nicht.

Unterm Strich durfte der erfahrene Politkämpfer Schönhuber in diesem Gespräch viel weniger offen reden als der notorisch krankhafte Neonazi Mahler bei Friedman. Die Frage ist, was vom Gesichtspunkt der öffentlichen Wirkung „besser“ ist? Sollte sich Broder heute für dieses Interview schämen, wie ihm von den meisten Nicht-Lesern unterstellt wird?

Beide erreichen hier nicht das Niveau einer Oriana Fallaci (darauf sollte ich vielleicht noch einmal zurückkommen!). Der Unterschied zwischen dem Profi Broder und dem Laien Friedman ist trotzdem eindeutig. Broder nutzt Schönhuber für seine Zwecke aus. Dagegen spielt Mahler Friedman aus.

Noch ein Thema wäre hier auch der Rahmen, in welchem ein Text steht. In der damals schon pseudolinken TAZ waren die Angriffe Broders auf Marx, die SPD, die gezogenen Parallelen im politischen Establishment zwischen Stoiber und Schönhuber nicht nur Reizworte, sondern auch eine individuelle Farbe, eine Position, zu der er auch heute noch steht. In der „Vanity Fair“ sehen das Grußwort Mahlers und all der darauf folgende Mist nur als Marketinggag, als ein Quotentreiber aus, egal was die Redaktion dazu sagt oder tut.

Das Einzige, was man Broder in diesem Zusammenhang vorwerfen kann, ist sein Schweigen in Bezug auf die Anspielungen seiner Leserschaft. Er hätte den Text mit ein paar Kommentaren auf eine seiner Seiten stellen können.

 

Charim und Judt Sonntag, 10. Juni 2007

Filed under: Antisemitismus,Medien,TAZ,Tony Judt — peet @ 21:24 Uhr
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Isolde Charim und Tony Judt trafen sich auf den Seiten der Wiener Zeitung „Standard“ (Link). Das ist eine Augenweide für viele Leser, die fieberhaft nach Treffern googeln: Verrückterweise sind die beiden Namen in den letzten Wochen ein Renner.

Wie auch immer, wird Judt von Charim interviewt. Das geschieht so verständnisvoll, dass es fast nach einem Opernduett aussieht. Die schönsten Stellen:

Charim: Sie werden in den nächsten Tagen in Wien einen Vortrag halten. Fürchten Sie nicht, dieser könnte „delikat“ verhindert werden, wie in New York, als ihr mittlerweile legendäres Israel-Referat in letzter Minute abgesagt wurde?

Tony Judt: Nein, denn dies hatte spezifisch amerikanische Gründe. In den USA ist – nicht zuletzt durch die Israel-Lobby – alles, was Israel anlangt, so sensibel und kompliziert, dass es nahezu unmöglich ist, dieses Thema in die öffentliche Arena zu bringen, ohne einen hohen Grad an Unbehagen zu erzeugen.

Die Frage geht von einer unwahren Prämisse aus, die Antwort bedient sich dankbar der Vorlage. Die Wahrheit wurde aber oft genug erzählt (Link).

Charim: Muss sich die Diaspora durch das Verhältnis zu einem Territorium, in dem Fall Israel, definieren?

Judt: Ja, das ist ein interessantes Paradoxon. Amerikanische Juden sprechen nicht Jiddisch, sie sprechen nicht Hebräisch, sie gehen nicht in die Synagoge, sie sind völlig amerikanisch. Ihr Judentum bestimmt sich durch zwei Momente: Durch eine Identität im Raum, das ist die Identifizierung mit Israel, selbst für jene, die niemals dort waren. Und durch eine Identität in der Zeit, eine Identifizierung mit Auschwitz. Jude sein in Amerika bedeutet, Auschwitz erinnern und Israel unterstützen, weil Israel der beste Schutz vor einem neuen Holocaust ist.  

Territorium – was für ein schönes Wort, sehr gute Arbeit. Amerikanische Juden hat Judt auch nicht schlecht beschrieben, mit einer sehr großen Liebe zur Wahrheit, zum Raum und zur Zeit. Zwei Philosophen unter sich. Leere Synagogen in Amerika, LOL. Ein Lied, zum Vergleich (Link).

Judt: […] wir können nicht so weitermachen, dass Juden, auch wenn sie österreichische, französische, schwedische oder australische Staatsbürger sind, sich in besonderer Weise mit Israel identifizieren. Denn das bedeutet, dass sie auch mit Israel identifiziert werden, wenn Israel Dinge tut, die antiisraelische, antijüdische Gefühle hervorrufen. Auf gewisse Weise produziert die Diaspora den Antisemitismus – durch ihre Weigerung, eine Differenz zwischen sich und den unabhängigen Staat Israel zu machen. Wir müssen eine Wahl gegen solch eine negative Diaspora treffen. Das bedeutet, dass Juden in Amerika, in England oder in Österreich einen Weg finden müssen, Jude zu sein und Österreicher. Die liberale Geschichte der Diaspora muss eine der Integration sein. Da gibt es keinen dritten Weg. 

Herrlich. Die Juden „produzieren“ den Antisemitismus. Die sind „negativ“, o weh. Judt weiß aber die Lösung, die einzig wahre, wie immer.

Charim: In Ihrem Buch „Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart”, für das sie den Kreisky-Preis erhalten, schreiben sie, dass die Erinnerung an die Shoah die Humanität des heutigen Europas garantiert. An Israel kritisieren Sie aber genau dieses Erinnern.

Judt: Sie haben völlig Recht. Willkommen in der Komplexität des Lebens. In Frankreich, Österreich oder Polen ist das Erinnern an die Ereignisse des 2. Weltkriegs absolut zentral für die Identität Europas. Und wenn es nicht mehr erinnert werden kann, muss es gelehrt werden. Es ist das Kernstück unserer kollektiven Identität. Aber in Israel ist dieses Erinnern pervertiert. In Israel ist es das wesentliche pädagogische Werkzeug, das Israelis lehrt, sie seien immer Opfer, das Loyalität mit Israel erzeugt – kurz, es ist das, was Israel daran hindert, ein normaler Staat zu werden.

Mit anderen Worten: Sie denken unlogisch, Sie sind doppelzüngig. – Nein, das ist nur komplex. – Aaah, das stimmt.

Und am Ende, wieder „kein normaler Staat“ usw.

Zu alledem gibt es noch eine spannende Diskussion zwischen den Lesern unter demselben Link: Sehr viele durchschauen Judt und seine Gastgeberin im Nu und sind ziemlich zielsicher in ihren Kommentaren.

 

Hans Werner Kilz belehrt Horst Köhler Samstag, 12. Mai 2007

Die Süddeutsche Zeitung will alles besser wissen. Neulich hat Hans Leyendecker über die Posener-Affäre doziert (Link):

Poseners Polemik ist aus vielerlei Gründen interessant: Wenn es das Internet nicht gäbe, wäre ein solcher Beitrag vermutlich nie erschienen. Auf dem Weg in die Setzerei hätte sich früher irgendjemand dazwischengeworfen.

Zum anderen ist der in London geborene Posener ein wegen seiner auf vielen Gebieten bestehenden mangelnden Kompromissbereitschaft interessanter Zeitgenosse. Der frühere Studienrat ist ein wortradikaler Liberaler, kein Karrierist. 
 

Sehr kollegial, wie wir sehen. Noch deutlicher? Bitte schön:

Die Wut, die mancher bei Springer auf die Achtundsechziger hat und die früher zur Karriere-Ausrüstung gehörte, teilt der Querkopf so nicht. Posener gehörte einst dem Kader einer Mao-Gruppe an und wundert sich manchmal, dass er damals kein Berufsverbot erhielt. Diese Gefahr bestand bei dem Burschenschaftler Diekmann nie. 
 

Will jemand noch einen ehemaligen Maoisten, den Querkopf und einen früheren Studienrat und ansonsten „interessanten Zeitgenossen“ verteidigen?

Heute hat der Chefredakteur sich den „Volkspräsidenten“ vorgenommen (Link). Der Artikel ist offensichtlich als zukünftig preisverdächtig intendiert. Ein hoher moralischer Zeigefinger.

Einige Fragmente daraus:

Hätte er wirklich etwas verändern wollen, hätte er handeln müssen – also begnadigen.

Soll das einer verstehen? Meint Hans Werner Kilz, Köhler hätte begnadigen müssen? Wer sollte dabei befriedet werden?

Was ist los in dieser Republik, wenn die Begnadigung eines Terroristen das Volk mehr in Wallung versetzt als die Entsendung deutscher Soldaten in Kriegsgebiete, die gescheiterte EU-Verfassung oder die rechtlich dubiose Neuwahl-Entscheidung des Präsidenten 2005 – Köhlers erster Verzicht, sich gegen den Trend zu stemmen?

Welches Volk meint Kilz? Gibt es Umfragen dazu? Oder nimmt er auf sich das Recht als moralische Instanz für alle zu sprechen? 

Der Volkszorn wurde von intellektueller Seite geschürt, nicht aus echter Empörung, mehr aus eitlen, auch merkantilen Gründen. Boulevardblätter müssen dem Volk verkauft, Magazine, Bücher, Filme crossmedial vermarktet werden.

Also doch nicht: Es waren Boulevardblätter, die den Volkszorn geschürt haben. Moment, oder waren es doch die Intellektuellen? Oder gar die Süddeutsche selbst? Am 20.1.2007 wurde die Debatte ausgelöst – mit dem Artikel von Antje Vollmer, den man bei der Zeitung selbst mit keiner Suchmaschine findet. Nur bei Vollmer selbst (Link). Mit dem berühmt gewordenen Vergleich:

Mit 24 Jahren bzw. 22 Jahren haben Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt, Eva Haule, länger im Gefängnis gesessen als jeder NS-Täter. (Albrecht Speer z.B. saß 20 Jahre in Spandau und danach standen ihm sogar die Türen zur Berliner Gesellschaft offen.)

Im selben Artikel schrieb Vollmer:

Es ist an der Zeit ein Kapitel zu beenden. Es ist an der Zeit, daß sich die deutsche Öffentlichkeit und die deutsche Politik dazu gratuliert, dieses Thema Terrorismus mit Klugheit, Maß, Umsicht und demokratischem Mut richtig beendet zu haben. Der Bundespräsident sollte und kann die Begnadigungen bald aussprechen – und zwar für alle verbliebenen Inhaftierten zusammen – wenn sie es denn wollen. Die deutsche Öffentlichkeit ist nicht rachsüchtig – wenn sie nicht medial aufgeputscht wird. Es braucht nicht mehr so viel Mut und nicht mehr so viel Energie, die für ein gutes Ende aufzuwenden ist. Problematisch ist immer nur die Gleichgültigkeit und das Desinteresse einer Öffentlichkeit, die leicht vergißt, daß hier im Sinne eines humanen Friedens noch etwas abzuschließen ist – aus einer längst vergangenen Epoche, die aber heute im globalisierten Rahmen wieder hoch aktuell ist.

Hier wird die eigene Meinung schon wieder als Urteil der Geschichte ausgegeben, der Präsident und die Öffentlichkeit werden beschworen bzw. manipuliert, obwohl die anderen, die Gegner, es nicht tun dürfen usw. Doch zurück zu Kilz:

Warum hat der Bundespräsident wohl das Gnadenrecht? Damit das Volk ihm zujubelt, wenn er einen Terroristen oder Mörder begnadigt? Das Volk jubelt lieber Hinrichtungen zu, die Bilder werden aus aller Welt täglich in die Zeitungsredaktionen geliefert. Das Gnadenrecht gibt es, um zu befrieden. Es unterscheidet sich gerade dadurch vom Strafrecht, dass es ohne Vorbedingungen gewährt wird. Gnadengesuche sind Unterwerfungen.

Wen wollen Kilz und Vollmer befrieden? Kann mir einer diese Frage beantworten? 

 „Vox populi, vox Rindvieh“ hat Stoibers Vorgänger Franz Josef Strauß einst gesagt. Er war ja auch ein Demokrat, ein grober vielleicht, aber ein intelligenter. Er wusste jedenfalls, wovon er sprach, auch wenn es dem Wahlbürger nicht besonders schmeichelte. […] Köhler hat im Fall Klar eine plebiszitäre Entscheidung getroffen. Der Bundespräsident übt ein Amt aus, das ihm wenig politischen Einfluss zugesteht. Aber es ist kein unpolitisches Amt. Köhler hat wieder einmal gezeigt, dass er kein politischer, sondern ein für Populismus empfänglicher Präsident ist.

Wird hier schwarz auf weiß Strauß als intelligenter Demokrat bejubelt? Dazu noch mit dem Zitat? Im Ernst? Wird seine arrogante Ignoranz der Demokratie deswegen als vorbildlich geschildert, weil er nie einen Klar begnadigt hätte? Wo hat hier eine Logik ihre Spur hinterlassen?

Wie hätte Köhler unversöhnliche Parteien befrieden können, wenn sie nicht einmal einander verstehen? Die einen sehen nur Mörder, die anderen – nur Begnadigungen. Sie reden aneinander vorbei. Zum Vergleich noch vier Verweise:

In der FAZ vom 8.5 rüstet Stephan Löwenstein gegen die Grünen auf, denunziert sie der Verbindungen zu RAF und weil doch nichts dabei herauskommt, seufzt er am Ende (Link):

Tatsächlich haben sich nur wenige, etwa wieder Frau Vollmer oder der Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck, ausdrücklich für eine Begnadigung Klars ausgesprochen. So konzentrieren sich auch die Grünen beim Thema RAF inzwischen hauptsächlich auf die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner.

Andersherum die „Junge Welt“, bei welcher sich die Gegenseite in einem exemplarischen Leserbrief empören darf (Link):

Die Entscheidung des Bundespräsidenten Köhler, das Gnadengesuch von Christian Klar abzulehnen, erfolgte am Vortag des 8.Mai. Dies mag Zufall sein, entbehrt aber nicht einer grundsätzlichen Symbolik. Kein einziger der Nazi-Blutrichter wurde je im NS-Nachfolgestaat BRD für seine Untaten verurteilt. Kein NS-Massenmörder hat – wie Klar – 24 Jahre, darunter viele in Einzelhaft (»weiße Folter«) für seine Taten büßen müssen.

Der Thälmann-Mörder Wolfgang Otto wurde ebensowenig wie seine Mittäter im KZ Buchenwald für seine Bluttat verurteilt, sondern lebte unbehelligt, zunächst als Lehrer im Staatsdienst und später als Rentner, bis zu seinem natürlichen Tod in den 90er Jahren im niederrheinischen Geldern. Dieser Henker wurde am 29. August 1988 im Saal 117 des Düsseldorfer Landgerichts vom Vorsitzenden Richter Enno Legde sogar freigesprochen, was von Kommentatoren damals als »Schandurteil« und »Justizskandal ohne Beispiel in der Nachkriegsgeschichte« gewertet wurde. (…)

Köhlers jetzige Entscheidung, die nun von der »politischen Klasse« und den Bourgeois-Medien unisono beklatscht wird, ist ganz im Sinne der Tradition dieses Staates, dessen Repräsentanten bis heute die Herausforderung der 70er Jahre, die sich explizit gegen eben jene Traditionslinie wandte, nicht verwunden haben. Die von Christian Klar in seinem Grußwort an die Rosa-Luxemburg-Konferenz skizzierte Notwendigkeit des antikapitalistisch (und antifaschistischen!) Kampfes bleibt auf der Tagesordnung, und zwar drängender denn je. Heinz W. Hammer, Essen  

Irgendwo dazwischen sitzt die TAZ und versucht sich herauszureden (Link):

Horst Köhler hat nicht erklärt, seit wann ihm das Gnadengesuch Birgit Hogefelds vorliegt, das der Öffentlichkeit bislang unbekannt war. Er hat auch nicht erläutert, warum er sich „nicht in der Lage“ sieht, „derzeit“ über ihr Gnadengesuch zu entscheiden. All dieses Schweigen ist gut und richtig, so unverständlich es auf den ersten Blick auch sein mag. Die grundsätzliche Befugnis des Bundespräsidenten, im Falle von Terroristen und Spionen „Gnade vor Recht“ zu gewähren, festgehalten im Artikel 60 des Grundgesetzes, liegt nun einmal im freien und nicht überprüfbaren Ermessen des Staatsoberhauptes. Dieses Recht, soll es wirksam sein, muss sich der aufgeregten politischen Debatte geradezu entziehen. […]

Angesichts dieses ungeheuren politischen Drucks – noch am Wochenende hatte die CSU offen damit gedroht, eine Wiederwahl Köhlers im Frühjahr 2009 zu blockieren, sollte er Klar begnadigen – zieht sich der Bundespräsident achtbar aus der Affäre. Er hat, offenbar nach gründlicher, schwieriger Abwägung, eine souveräne Entscheidung getroffen. Er hatte sich zuvor durch Tausende von Akten gefressen. Er hatte, so wurde es vorige Woche im Stern kolportiert, mit RAF-Experten wie Kay Nehm, Klaus Kinkel, Antje Vollmer und Stefan Aust ebenso getroffen wie mit Angehörigen der RAF-Opfer, unter ihnen Hergard Rohwedder und Michael Buback. Und schließlich hatte sich der Bundespräsident bei einem Gespräch mit Klar am vorigen Freitag irgendwo in Süddeutschland ein persönliches Bild von dem Mann gemacht, der seit über 24 Jahren hinter Gittern sitzt.

Köhler soll dabei, so schilderten es mehrere seiner Gesprächspartner, nicht die Frage der Symbolik oder der gesellschaftlichen Versöhnung interessiert haben, sondern die menschliche Dimension des „Falles“ Christian Klar, die Frage seiner möglichen oder gar notwendigen Resozialisierung. Warum ihm der Bundespräsident die Gnade verweigert hat, wissen wir nicht. Die routinierten Reaktionen aus allen politischen Lagern (SPD: „souverän“; FDP: „klug und weise“; CSU: „in Einklang mit dem Gerechtigkeitsempfinden einer großen Mehrheit in Deutschland“) tragen zur Aufklärung diesbezüglich nichts bei.

Mit diesen Worten von Jens König könnte man abschliessen. Wenn fast alle unzufrieden bzw. unbefriedet sind, ist Köhler sowieso schuld. Etwas nüchterner sieht die Perspektive bei Gudula Geuther aus, die beim Deutschlandradio den gesamten Ablauf der Debatte treffend beschrieben hat (Link). Nicht spektakulär – dafür aber realistisch.

 

Wahl in Bremen und interaktive Demokratie Freitag, 11. Mai 2007

Filed under: Bremen,Deutschland,Medien,Politik,TAZ — peet @ 13:27 Uhr
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Politik als Ware – das ist auch ein Produkt, nun wochenlang vermarktet von und durch die Plattform politik.de. Die SPD-Spitze in Bremen hat gerade noch rechtzeitig entdeckt, dass die kandidatenwatch.de-Seite mit allen Begleiterscheinungen viel zu tolerant auf dem rechten Auge ist. Der amtierende Bürgermeister distanzierte sich von der Idee der Plattformbetreiber, alle Parteien gleich zu behandeln. Die TAZ war damit nicht einverstanden (Link).

Inzwischen sind noch zwei Tage vor der Wahl geblieben. Zu der Susanne-Albrecht-Affäre, die eigentlich eine Bild-Zeitung-plus-CDU-Affäre ist, wurde in der Presse schon genug gesagt – bei der Gelegenheit kämpfte die TAZ schon wieder gegen die SPD (Link). Christian Hochhuth von dem Politgeschäft arbeitet an seiner Sache unermüdlich weiter. In mehreren Interneträumen, inclusive „Second Life“, wird mit der Politik hantiert als wäre es eine Boulevard-Veranstaltung, so wie eine Suchaktion nach einem nächsten „Superstar“ für das Geschäft Dieter Bohlens (Link). Die selbstentlarvende Krönung des Unternehmens steht im Netz. Das ist das Chatprotokoll einer Onlinesitzung vom 9.5. (Link). Christoph Dowe [korrigiert! s. Kommentar] schimpft gegen die SPD als „Online-Verweigerer“ und Christian Hochhuth lässt die Teilnehmer plaudern. Am Ende kommt nichts heraus – viel bla-bla. Das wäre schon alles, wenn nicht die Werbung für das hauseigene Produkt, die immer wieder dezent gestreut wäre. Gemeint ist politikforum.de. Dieses Forum arbeitet seit Jahren und ist zu einem Sammelbecken der Rechtsradikalen geworden, die es erfolgreich unterwandert und für sich gewonnen haben. Es ist das sozusagen beste negative Beispiel für die Tätigkeit Hochhuths und C°.

Weder Politiker, die am Chat teilgenommen haben, noch die Presse haben daran etwas ausgesetzt. Klar, weil sie keine Ahnung davon haben.

Ich bringe nur ein Beispiel. Im politikforum.de wird immer wieder gerne abgestimmt, wobei Forumsmitglieder, darunter viele Reps, Radikale verschiedener Sorte, Rassisten und Antisemiten, für ihre Sache kämpfen und auftreten. Auf dem Diagramm kann man sehen, wer da die Mehrheit hat und wie weit die Stimmverteilung von der Realität entfernt ist:

Für die „Welt“ ist das „harmlos“ (Link). Kritischer sehen die Arbeit von politik.de nur die SPD-Leute (Link) und eine Politikwissenschaftsstudentin Julia Spreen (Link):

Internetportale sind für mich aktuell noch keine zufrieden stellende Lösung zur Verbesserung der Kommunikation zwischen Parteien und Wählern. Wissenschaftler und Praktiker fordern immer wieder mit Nachdruck, dass die Politik die durch das Internet zur Verfügung stehende Interaktivität viel stärker nutzen muss . Wie jedoch eine konkrete Ausgestaltung aussehen soll, das bleibt meist offen. Kandidatenwatch.de ist für mich im jetzigen Format jedenfalls keine Antwort auf diese Frage. 

Einverstanden.

 

Ackermanns Gehalt und Medien Donnerstag, 29. März 2007

Am 27.3.2007 wurden die Gehälter von Top-Managern für das Jahr 2006 bekanntgegeben. Darunter Josef Ackermann von der Deutschen Bank, mit seinen 13 200 000 Euro. Wie wurde diese Nachricht journalistisch verarbeitet?

Die meisten Zeitungen vermeldeten es und beließen es dabei, ohne Kommentare. In einigen Fällen wurden Forenbeiträge zugelassen, so dass die Leser mit ihren Meinungen die Aufgabe der Redakteure übernommen haben, einige sogar sehr gut. Fast alle Blogger haben diese Nachricht ignoriert. Sollte man das noch kommentieren?

Eine merkwürdige Mischung aus Neid und Bewunderung gegenüber Ackermann selbst einerseits und aus feiger Verschwiegenheit und Resignation in der Bewertung der Nachricht und deren Hintergründe andererseits ist das Resultat der Stöberns durch die Publikationen im Internet. Insgesamt sieht das nicht gut aus.

Und jetzt die Beispiele.

Die einzige Zeitung, die Ackermann der Sittenwidrigkeit überführt (Link), ist die TAZ. Jan Feddersen und Klaus-Peter Klingelschmitt verteilen die Rollen untereinander: Der erste mischt Ironie mit Heuchelei:

Wir wollen ihn nicht noch weiter ehren mit unserem Neid. Das Schlimmste steht ihm ja noch bevor: eine Entourage voller Devotlinge und Schleimgeister, die wollen, was er hat. Dieser Ackermann bekommt die Kohle ohnehin weitgehend als Schmerzensgeld – weil er all die Rivalen ausgestochen hat, die nicht so gruppendynamisch, also karrieregeschmeidig operierten wie er. Und nun ihre Missgunst verstecken. Nein danke, ohne uns! 

Der zweite geißelt:

Das waren 36.164,38 Euro pro Tag. In der Stunde „verdiente“ Ackermann 1.506,84 Euro. Und in der Minute immerhin noch 25 Euro und 11 Cent. Sittenwidrig? Ja. Und diese (Be-)Wertung hat mit Neid nichts zu tun. […] Mit 1 Million Euro, „dem Spitzengewinn bei Jauch“, wären beide angemessen ausgestattet. Alles darüber hinaus ist Verschleuderung von Volksvermögen, das doch, „wenn es schon nicht an alle Beschäftigten ausgeschüttet wird“, wieder investiert werden könnte.

Merken wir uns: Klingelschmitt zählt 365 Arbeitstage à 24 Stunden :-)

Die „Tagesschau“ stellt zwei Beiträge zum Thema online und erklärt auf diese Weise zwei Sachen. Erstens den Grund für die astronomisch hohe Entlohnung Ackermanns (Link):

Die Bank hatte für 2006 den höchsten Gewinn ihrer Geschichte ausgewiesen.  

Zweitens zeigt Marc Dugge im Vergleich die Situation in den USA und widerlegt damit die Argumentation der Ackermann-Verteidiger (Link):

Befürworter hoher Managergehälter verweisen gern auf die USA, wo derartige Spitzengehälter angeblich völlig normal sind. Stimmt das? […] Die Mega-Einkünfte der Wirtschaftsbosse sind ein Dauer-Aufreger in den USA – und alles andere als allgemein akzeptiert. Rodger Hodgson vom wirtschaftskritischen Forschungsinstitut „Corporate Library“: […] In zwei Dritteln der US-Unternehmen ist der Firmenchef gleichzeitig Vorsitzender des Aufsichtsrats – und der darf die anderen Mitglieder des Aufsichtsrats vorschlagen. Das sind in der Regel Menschen, die ihm genehm sind. Und die ihm aus Dankbarkeit ein ordentliches Gehalt gönnen. Von Kontrolle also keine Spur. […] „Ist die Höhe des Gehalts bei dem Unternehmensergebnis gerechtfertigt? Es wird wohl eher um solche Fragen gehen als darum, ob 30 Millionen Dollar Gehalt zuviel oder zuwenig sind.”

Genau das ist die Sichtweise vieler Amerikaner: Wenn jemand ein Unternehmen zum Erfolg führt und den Aktienkurs steigen lässt, darf er ruhig Millionen verdienen. Aber auch nur dann.

Die FAZ (Link), die Süddeutsche (Link) und die Rheinische Post (Link) überlassen ihren Online-Lesern die ehrenvolle Aufgabe, die Sache zu kommentieren. Und wie gesagt, einige schaffen das ganz gut, die Journalisten können sich inzwischen wichtigeren Themen widmen. Ein Florian Kraus schreibt in der SZ online – aus meiner Sicht – sehr treffend:

Kaum jemand wird in einer Marktwirtschaft etwas dagegen haben, wenn ein Unternehmer, der ein Unternehmen erfolgreich aufbaut oder leitet und persönlich das Risiko des Scheiterns trägt, sich diese Leistung in sieben- oder achtstelligen Einkommen vergüten lässt, wenn der Markt es hergibt. Das Gleiche gilt auch für Vorstände, die es schaffen, dass ein Unternehmen seinen Wert steigert, auch sie können und sollen gerne an dieser Wertsteigerung partizipieren.

Nur, genau da hakt es in unserer Wirtschaft! Wie sonst konnte eine Niete in Nadelstreifen wie Schrempp, unter dessen Führung der Aktienkurs von Daimler in den Keller ging, dennoch zu den bestverdienenden Topmanagern gehören? Wie sonst können Vorstände, die durch unnötige Fusionen oder andere Fehlentscheidungen Milliarden in den Sand gesetzt haben unter den Topverdienern auftauchen?

Persönliches Risiko? Fehlanzeige! Die Vorstände, die wegen massiver Mißwirtschaft ohne Abfindung nach Hause geschickt wurden, lassen sich an einer Hand abzählen, diejenigen, von denen gar Regress gefordert wurde, müssen erst noch geboren werden. Welcher Arbeitnehmer erhält noch eine Abfindung, wenn ihm Fehler zur Last gelegt werden, die eine Kündigung rechtfertigen? Bei Vorständen jedoch ist es üblich, dann mit goldenem Handschlag in eine kurze Ruhepause geschickt zu werden, bevor ihm ein anderes Unternehmen großzügig Asyl und Salair anbietet (Pischetsrieder ist nur ein Beispiel). Man kennt sich in diesen Kreisen ja und irgend ein Pöstchen findet sich da immer.

Und was die Spitzenergebnisse der Unternehmen betrifft – gleich, ob Deutsche Bank oder Allianz, es ist nicht so schwer, ertragreich zu arbeiten, wenn man Personalkosten durch Entlassungen sozialisieren und Gewinne privatisieren kann. Denn wer zahlt denn die Kosten für die Entlassungen? Letztendlich die Beitrags- und Steuerzahler, also die Allgemeinheit. Gleiches geschieht auch in anderen Branchen: auch die just in time-Produktion bürdet die Lagerhaltung z.B. über den LKW-Verkehr den Bürgern auf, die Folgen des hohen Risikos der AKW wird nicht etwa durch risikogerechte Versicherungsprämien gedeckt, sondern euphemistisch als „Restrisiko“ auf die
Gesellschaft verlagert.

Auch der Vergleich mit den USA hinkt, denn dort stellen sich viele Spitzenverdiener wesentlich stärker auch ihrer gesellschaftlichen Verantwortung, indem sie sich in Stiftungen und als Mäzene engagieren. Aber hier nehmen die zwar gerne die Vorteile amerikanischer Gepflogenheiten in anspruch, wenn es um deren Nachteile (Veröffentlichung etc.) geht, werden die deutschen Regeln vorgezogen.

Niemand neidet Spitzenkräften – egal ob in Sport, Unterhaltung oder Wirtschaft – ihre Einkommen. Wasser zu predigen (Lohzurückhaltung und noch mehr Einsatz, um die Position zu stärken) und Wein zu trinken (Einkommensteigerung +10% und mehr) und das auf Kosten der Gesellschaft – das sind die Rahmenbedingungen, die der Frage, ob solche Einkommen gerechtfertigt sind oder nicht, auch eine ethische Dimension verleihen.

„Hindylop“ predigt nicht weniger schön:

Ackermanns Aufgabe ist nicht nur, den Gewinn „seines“ Unternehmens sicher zu stellen. Aufgabe Ackermanns (und jedes anderen in ähnlicher Position) ist auch, sich an die Gesetze zu halten. Und, da in prominenter Position, nicht nur an den nackten Wortlaut, sondern an Sinn und Absicht der Gesetze (als Symbolfigur, die er nun mal ist).
In einem dieser Gesetze steht: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll ZUGLEICH dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ […] Über dieser Verpflichtung, das eigene Unternehmen optimal zu positionieren, stehen in einem Rechtsstaat doch aber sicher die Grundgesetze. Für die BWLer und andere, die es nie gelesen haben: GG Art. 14,2. überhaupt stehen da noch viele andere schöne Sachen drin, an deren Einhaltung durch die hochbezahlten Symbolfiguren unserer Wirtschaftswelt man beim Lesen der Wirtschaftsseiten so seine Zweifel haben kann. […] Reine Ideologien führen eben IMMER zu menschenunwürdigen Ungerechtigkeiten – das gilt für die angeblich sozialistischen Staaten ebenso wie für die kapitalistischen. Der Unterschied ist, dass die ersteren ihre Ideologie stolz vor sich her tragen, um sie zu ignorieren. Die zweiteren leugnen, eine Ideologie zu haben („neutral“), und setzen sie fleißig und mit allen schädlichen Wirkungen in die Tat um.

Die Wirtschaft und ihre Logik sind eben nicht die höchsten gesellschaftskonstituierenden Normen. Stattdessen stehen in unserem Grundgesetz ganz vorn Worte wie: Verantwortung, Würde, Menschenrechte, menschliche Gemeinschaft … – soviel zum Thema, wofür Wirtschaftsführer in erster Linie Verantwortung tragen (sollen). Dass sie diesbezüglich vermehrt in die Kritik geraten und zur Verteidigung selten mehr als „unsere Verantwortung gilt dem Gewinn des Unternehmens“ vorgebracht wird – also vom Thema komplett abgelenkt wird – lässt auf die fragwürdige Machtposition schließen, in der sich diese Personen befinden.

„XLarge“ bei der RP-Online zählt den Stundenlohn von Ackermann anders als oben:

Dass bei der Debatte um einen Mindestlohn ein Herr Ackermann bei 60h/Woche und 44 Arbeitswochen einen Stundensatz von 5000 EUR hat, gibt mir zu denken – das ist das 666fache des vorgesehenen Mindestlohns von 7,5 EUR (ein Schelm …) Am ersten Arbeitstag hat Herr Ackermann also mindestens das doppelte “verdient“ wie der Mindestlöhner im ganzen Jahr – von 1€Jobs fangen wir besser gar nicht an – aber nur wenn Herr Ackermann nur bei einem Unternehmen beschäftigt wäre, aber er sitzt ja in diversen Firmen in Aufsichtsräten/Vorständen…  

Ein Hans-Peter (auch bei der RP-Online) ist anderer Meinung:

Josef Ackermann war und ist für die Deutsche Bank und die deutsche Wirtschaft ein Glücksfall. […] “Deutschland krankt daran, dass es nicht noch mehr Ackermänner hat!“

Noch eifriger verteidigt ein „Baguette“ (auch RP-Online) den Großverdiener:

Trotz ungünstigen Rahmenbedingungen hat Herr Ackermann weiterhin viel für den Standort Deutschland getan. Er hat entgegen vielen Mutmaßungen den Sitz der Bank nicht nach London verlegt und hat dabei viele Arbeitsplätze in Deutschland erhalten. Ferner war er fast permament Attacken durch deutschen Medien und Neidern ausgesetzt. Auch in dieser Zeit hat er das Schiff nicht verlassen, sondern die Bank in Ruhe weitergeführt. […]  Nichtaktionäre mögen sich bitte aus der Diskussion heraushalten, schliesslich handelt es sich dabei nicht um ihr oder um Allgemeineigentum. 
 

Diese letzte Bemerkung finde ich besonders köstlich. Und nun zwei Zitate aus Blogs. Mehr gibt es leider nicht, wie gesagt. Im Blog „Textpool“ wird schon wieder der Stundenlohn Ackermanns neu errechnet (Link):

13,2 Millionen Euro stehen bei dem Schweizer auf dem Gehaltszettel, heruntergerechnet sind das rund 4500 Euro in der Stunde. 

Ich glaube, in Minuten und Sekunden wäre das anschaulicher. :-) Und zum Schluss die einzige Blogmeldung, die mich angesprochen hat. Dazu noch vor der Verkündigung der guten Nachricht: Schon am 12.2.2007 hat Klaus J.Stöhlker in seinem Blog den besten Kommentar zum Thema abgegeben (Link). Ich zitiere den kurzen Text vollständig:

Unser Joe Ackermann hat es den Deutschen und allen Kollegen in der Schweiz gezeigt: Die Deutsche Bank verdient wieder richtig Geld. Der Mann mit dem “V”-Zeichen vor Gericht ist nun schon wieder gestolpert, sagte er doch zur Rechtfertigung seines Jahreseinkommens: “Wir werden nicht von Deutschland bezahlt, sondern von unseren Aktionären.” Ist das die ganze Wahrheit? Die Deutsche Bank, einst das Herz der deutschen Wirtschaft, von Abs (”A wie Abs, B wie Abs und S wie Abs”) zur heutigen Grösse herangeführt, kann ohne Deutschland nicht leben. Sie ist Teil des wirtschaftlichen Körpers unseres nördlichen Nachbarn. Joe will nur den Aktionären Rechenschaft ablegen, nicht der deutschen Wirtschaft und nicht dem deutschen Volk, mit dem die Bank ihr Geld verdient. Da ist noch einer, der seine Ansprüche zu Jahresbeginn eingetrieben hat. Anshu Jain ist Statthalter Ackermanns in London, von wo er das grosse Geld hereinbringt. Er verdient mit Sicherheit mehr als Euro 50 Mio. pro Jahr. “Joe”, unser Goldjunge aus dem St. Gallischen, hat Glück, dass Anshu ihm die Stange hält.

Für die Hinweise auf journalistische Beiträge, die ich übersehen habe, wäre ich dankbar. Sonst kann man auf die Meinung wie „armselig“ kommen, was ich doch vermeiden möchte.

 

Der Tagesspiegel will auch eine Kippa Freitag, 9. März 2007

Nach dem Vorbild der TAZ (Link) hat auch der „Tagesspiegel“ einen Journalisten mit der Kippa durch die Hauptstadt geschickt, gar mehrere Tage. Der Unglückliche wurde nicht einmal angepöbelt. Sein Fazit: Es gibt keinen Antisemitismus.

Das Scheitern des Projektes ist seine zu frühe Freude: Antisemitische Leserkommentare holen da ganz exemplarisch nach (Link). Der Autor beteiligt sich nicht an der heißen Diskussion, wozu auch.

 

Historische Kleinigkeiten, wie Daniel Koerfer sie sieht Samstag, 21. Oktober 2006

Filed under: Antisemitismus,Deutschland,Geschichte,TAZ — peet @ 20:48 Uhr
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Noch ein Professor der Geschichte macht auf sich aufmerksam. In einer Buchbesprechung bei der TAZ zeigt sich Daniel Koerfer in einem merkwürdigen inneren Dialog mit sich selbst und in einem noch seltsameren versteckten Streitgespräch mit Daniel Goldhagen (Link).

Das Thema ist das vergleichsweise neue Buch von Peter Longerich mit dem Titel „»Davon haben wir nichts gewusst!«Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945“; Siedler Verlag, München 2006. Fast alle Zeitungen haben sich gemeldet. Der Dialog der Kritiken ist lesenswert, denn die einen loben das Buch, die anderen sind mit ihm unzufrieden. Nur positiv sieht „Die Zeit“ (Link) das Buch, von Volker Ullrich geschrieben. Durchaus ausgewogen sieht Hans Mommsen das Resultat in der FR (Link). Etwas skeptischer ist Norbert Frei in der NZZ (Link). Äußerst negativ beurteilt Daniel Goldhagen das Buch in der „Welt“ (Link).

Wenn jetzt noch ein Interview mit dem Autor in derselben TAZ berücksichtigt werden könnte (Link), wäre das Bild dann ziemlich rund. Denn am Ende des Interviews will die Zeitung endlich wissen:

Die Deutschen haben auf die Ermordung der Juden erst mit Missbilligung, dann mit Verdrängung reagiert. Die Missbilligung dementiert Daniel Goldhagens These, dass der Holocaust „ein nationales Projekt“ der deutschen Gesellschaft war – oder?

Goldhagens These vom Vernichtungsprojekt war als Provokation für die Forschung nützlich, aber viel zu pauschal. Wer sind denn die Deutschen? Die Gesellschaft war ja nicht homogen. Es gab schon in der Weimarer Republik ein völkisch-nationalistisches Milieu, das in der Tat eine Gesellschaft ohne Juden wollte. Diese extreme Gruppe ist im NS-Staat hegemonial, umfasst aber wohl etwa 15 bis 25 Prozent der Gesellschaft. Andererseits erfordert ein so gewaltiges Unternehmen wie der Judenmord eine gewisse Kommunikation. Die Führung muss der Basis ja vermitteln, dass das richtig ist, was sie tut. Und es muss auch zumindest der Anschein eines gesellschaftlichen Konsenses inszeniert werden.

Und das ist gelungen?

Ja, das ist der NS-Führung gelungen. Insofern haben die Deutschen so funktioniert, wie die NS-Führer es wollten.

Das ist viel zu einfach für Stefan Reinecke und Christian Sammler, die das Interview führten. Deswegen wird wahrscheinlich Daniel Koerfer geholt, der gleich aufklärt:

Da der Antisemitismus nicht tief verwurzelt war, wollte das NS-Regime die Deutschen zu Mitwissern des Völkermords machen.

Nicht tief genug? Das ist aber schade. Als einer von mehreren durch Koerfer aus dem Buch zitierten Beweisen soll hier ein Fragment genügen:

Im August 1942 gibt die SD-Außenstelle Leipzig etwa folgende Stimmen weiter: „Die Judenfrage konnte Hitler auch anders lösen. Menschlicher! Kein Mensch hat das Recht, ein Volk ausrotten zu wollen. Gewiss haben die Juden uns viel geschadet, aber die hat man von 1933 bis 1941 abreisen lassen.“

Das ist eben nicht tief genug. Der Höhepunkt des Artikels klingt so:

Sorgfältig beschreibt Longerich noch etwas anderes: das Bemühen des NS-Regimes, die zunehmend gleichgeschaltete Öffentlichkeit auch im Bereich der „Judenpolitik“ auf Linie zu bringen, die Bevölkerung zu einem aggressiv ausgrenzenden Verhalten, zum „Hass auf Juden“ anzustacheln. Und er beschreibt das Scheitern dieser massiven Indoktrinationsversuche. Es ist also kein Wunder, das Daniel Goldhagen für diese Studie nur Verachtung übrig hatte, denn von einem verbreiteten, in der deutschen Gesellschaft tief verwurzeltem „eliminatorischen Antisemitismus“ findet sich nichts bei Longerich.

Goldhagen ist ein Profi und arbeitet mit Argumenten, er nennt Quellen, die Longerich ausblendet oder nicht kennt, und verweist auf methodische Versäumnisse Longerichs. Koerfer sucht keine Argumente, er polemisiert. Hitlers Versuch scheiterte – sowas aber. Der Artikel von Goldhagen ist trotzdem noch da. Das sieht für Koerfer nicht gut aus. Kein Zufall, dass Professor Koerfer seine Studenten mit Fest-Büchern versorgt.

In den anderen Zeitungsartikeln schreibt Koerfer viel über das Thema (ohne zum Beispiel Götz Aly auch nur einmal zu erwähnen, was für ein Zufall!). So bei der „Zeit“ in einer Buchbesprechung (Link):

Selbst wenn man Browning gegenüber einwenden mag, dass in einem totalitären Regime – das Wort „Diktatur“ findet sich nur an einer Stelle im ganzen Buch – Widerstandshandlungen und Solidarität mit Verfolgten und Bedrohten ein besonderes Maß an Zivilcourage erfordern, es „die“ Deutschen als einheitliche Tätergruppe nicht gegeben hat, liest man diese beeindruckende Darstellung über ihre Verstrickung in den Massenmord mit Bedrückung.

Koerfer ist hier beeindruckt und bedrückt. Wusste er das als Professor auf dem Gebiet noch nicht?

In einer anderen Buchbesprechung teilt Koerfer die Deutschen sogar in eine Mehrheit und eine Minderheit, und zwar anders als in der Longerich-Kritik (Link):

Manche wie die Retter der jungen Charlotte Knobloch im bayrisch-bäuerlichen Milieu werden sogar noch Jahrzehnte später wegen ihrer Handlungen diskriminiert, sodass sie die Gerettete im Jahr 2002 bitten, jeden Kontakt zu ihnen abzubrechen. Tatsächlich erwuchs vor allem den vielen, die nicht geholfen hatten, aus dem Wirken der Retter ein fundamentales Problem – hatte deren Engagement doch bewiesen, dass man etwas tun konnte gegen den NS-Terror und ihn nicht passiv hinzunehmen brauchte. Auch deshalb neigten die vielen nach 1945 dazu, das Wirken der wenigen gegen das Regime zu verdrängen.

Genau wie bei Joachim Fest – keine Täter, nur passive Zuschauer, die dann ihr Mitwissen noch verdrängen. Fein. Longerich hat offensichtlich weniger Probleme mit der Kritik seitens Goldhagen als die TAZ und ihre Historiker.

 

Zu Fest ins Grass gebissen Samstag, 16. September 2006

Filed under: Deutschland,Günther Grass,Literatur,Medien,Politik,TAZ — peet @ 14:26 Uhr
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Bitte nicht schockiert sein – dies ist nur eine Feststellung. Joachim Fest starb, nachdem er Günter Grass höchstmoralisch kritisiert hat. Nachrufe sind fast ausnahmslos hochpathetisch und voll des Lobes. Das kann nicht ungestraft so stehen bleiben.

Schirrmacher stellt Fest auf das Podest mit Thomas Mann (Link):

Fest, der mit Thomas Mann nicht nur die Statur, sondern auch, wie dessen Sohn Golo feststellte, die stilistische und gedankliche Kraft gemein hatte, lebte auch das symbolische Leben, das seine großen Heroen, Goethe und Thomas Mann, vorgelebt hatten.

Der knapp Dreißigjährige überrascht die Welt mit einem regelrechten Geniestreich, dem Buch „Das Gesicht des Dritten Reiches”; der Mann von noch nicht einmal fünfzig Jahren veröffentlicht seinen „Doktor Faustus”, die große Hitler-Biographie; eine italienische Reise und manche Xenien sind dazwischengestreut; schließlich die bewegenden und befreienden Jugenderinnerungen des fast Achtzigjährigen.

Das ist noch nicht alles. Die „Hitler“-Biographie 1973 wird zum Nonplusultra erkoren:

Sie ist, wie heute selbst seine Gegner zugeben, ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung. Er hat Hitler analytisch geröntgt, den „widrigen Gegenstand” mit unvergleichlichem Stilvermögen erzählbar und damit auch rationalisierbar gemacht. Hitler und Hitlers Erfolgsmöglichkeit zu verstehen, war die wichtigste geistige Aufgabe der Deutschen seit 1945. Fest hat es geleistet, selbst Sebastian Haffners „Anmerkungen zu Hitler” sind undenkbar ohne das Vorgängerbuch seines Freundes.

Kein Buch, das seit 1945 in deutscher Sprache erschienen ist, ist bedeutender als Fests „Hitler”, und kein anderer Autor war dem Verfasser des monumentalen Werks, war Joachim Fest, vorher oder nachher stilistisch und gedanklich gewachsen.

Also das bedeutendste deutsche Buch seit 1945, aha. Für Patrick Bahners ist Fest nicht weniger als Burckhardt von heute (Link). In unfreiwilliger Selbstironie schreibt er:

Faszination Speer

Nicht Tatsachen sind in letzter Analyse die Materialien des Historikers, wenn auch die Überlieferung Umwälzung ist.

Etwas weiter kommt es noch besser:

Hitler kam aus dem Nichts und riß die Welt mit ins Nichts, die ihn hatte groß werden lassen.

Schirrmachers und Bahners‘ Leichtigkeit im Umgang mit der Feder und Geschichte soll uns nicht aufhalten. Markus Schwering ergänzt das Bild des Gestorbenen mit einer merkwürdigen Bewunderung (Link):

Fest war ein Polemiker von hohen Graden, der der Debattenkultur in Deutschland immer wieder frisches Blut zugeführt hat. Dabei schlug er auch zuweilen über die Stränge – so, als er, in einem Anfall von raumgreifender Instinktlosigkeit, in seinem Berliner Haus einmal bei einer Abendgesellschaft Albert Speer und Marcel Reich-Ranicki aufeinander treffen ließ. Das kostete ihn die Freundschaft des konsternierten Meisterkritikers.

Tja, haben wir etwas anderes erwartet, hat denn Martin Walser nicht schon alles über den Konsternierten geschrieben? Erstaunlicherweise fühlte sich Speer nicht beleidigt. Dieselbe Geschichte wurde neulich auch in der Zeitung „Freitag“ erzählt, noch pointierter (Link):

Marcel Reich-Ranicki schildert in seinen Memoiren, wie er von Fest zu einem Empfang des Siedler Verlages mitgenommen wurde, bei dem er nichtsahnend auf einen inzwischen frei gekommenen Kriegsverbrecher stieß, für den sich Fest als Ghostwriter betätigte: „Und dann kam man zum Anlass des Empfangs, zur Präsentation von Joachim Fests Buch, das schlicht Hitler hieß und hier auf schwarzem Samt lag. Speer blickte lächelnd auf das Buch und sagte laut: ›Er wäre zufrieden gewesen, ihm hätte es gefallen‹.“ Reich-Ranicki weiter: „Bin ich vor Schreck erstarrt? Habe ich den Massenmörder, der hier respektvoll über seinen Führer scherzte, angeschrieen und zur Ordnung gerufen? Nein, ich habe nichts getan, ich habe entsetzt geschwiegen.“

Alles andere wäre auch unpassend gewesen. Joachim Fest hat von Speer zum Dank für seine Verdienste ein von Adolf Hitler eigenhändig gemaltes Aquarell bekommen – daneben nimmt sich der Nannen-Preis trotz Gala und einer zumindest geplanten Minister-Rede etwa schäbig aus.

Zurück zu dem Nachruf von Schwering. Noch leichter als diese moralisch zweifelhafte Würdigung wird die von Schirrmacher nicht einmal erwähnte Kritik abgetan:

Die Konzentration auf das Individuum lenke, so der Tenor, von den strukturellen Ursachen der Diktatur ab, verharmlose diese letztlich. Davon konnte bei näherem Hinsehen zwar keine Rede sein, genauso wenig wie von der angeblichen schillernden Faszination durch das Monströse.

Keine Rede, das ist ein ganz klares Argument. Fast genauso geht die dpa mit dem Thema in der „Focus“-Ausgabe um (Link):

Historiker-Kollegen warfen Fest vor, Adolf Hitler zu einer „großen weltgeschichtlichen Persönlichkeit“ stilisiert zu haben. Gerügt wurden auch Fests Arbeiten über Hitlers Chefarchitekten Albert Speer: „Lügen, Halb- und Unwahrheiten“ seien unwidersprochen aneinander gereiht, kritisierte der Holocaustforscher Götz Aly. Der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz befand, Fest habe „an der Erzeugung des Markenartikels Speer Ende der 60er-Jahre erheblichen Anteil“.

Es wird zitiert und doch damit abgetan. Die soeben zitierte Kritik wird neutral behandelt, so schlimm war das alles auch wieder nicht, nicht wahr? Im kurzen Nachruf des NDR wird es noch einmal naiver formuliert (Link):

Die Person Hitlers wurde für Fest Schlüssel zur deutschen Seele, Inbegriff des fatalen Hangs der Deutschen zu Extremen.

Ach, nur ein bisschen extrem. Die Position seines Vaters wird hervorgehoben und hochstilisiert:

1933 wurde sein Vater als Nazigegner aus dem Beamtendienst entlassen.

Die erste selbständige Entscheidung des Sohnes wird dagegen nicht nacherzählt, das übernimmt der „Deutschlandfunk“ (Link):

Als Joachim Fest 1944 den Entschluss fasste, freiwillig in den Krieg zu ziehen, um der Einberufung in die SS zu entgehen, bekommt er die ganze Autorität seines Vaters zu spüren.

Der Leser denkt, der Vater habe ihm seine Entscheidung ausgeredet. Einige Zeilen weiter kann man aber lesen:

Atemberaubend spannend jene Szenen, in denen Joachim Fest beschreibt, wie er sich – in amerikanische Gefangenschaft geraten – aus seinem Versteck, einer vernagelten Frachtkiste, zu befreien versucht.

Das Erinnerungsbuch, in dem darüber erzählt wird, heißt „Ich nicht“. Fest wird zu einer Autoritätsperson des Widerstands erklärt und verklärt, mythisch bearbeitet. Insofern hat Eckhard Fuhr recht, wenn er sagt (Link):

Joachim Fest steht kurz davor, von den Propagandisten der „neuen Bürgerlichkeit“ als Galionsfigur vereinnahmt zu werden, als Lichtgestalt, die den Kleinbürger Grass wie ein sich windender Wurm erscheinen lässt, oder höchstens wie ein tränend seine Zwiebel häutender Fischsuppen-Koch. Fest dagegen strahlt auf den Marmorklippen seines heroischen Individualismus als Vorbild für die Super-Egos eines trotz des 11. Septembers leider postheroischen Zeitalters.

Die TAZ sieht in ihm „den letzten Bürger der Bundesrepublik“, nicht mehr, nicht weniger (Link). „Die Welt“ ist von einer kurzen Erzählung des Bürgers Fest fasziniert (Link):

Denn Fest war ein Bürger, wollte einer sein. Nichts, hat er einmal erzählt, nicht einmal der Verlust seiner Freiheit habe ihn bei der Gefangennahme im Frühjahr 1945 so empört wie die offensichtliche Geringschätzung, mit der ihm ein amerikanischer Offizier die letzten, kostbaren Reste seiner Bibliothek, die er im Tornister durch alle Kriegswirren gerettet hatte, abnahm und demonstrativ in den Staub warf: so etwas brauche er von jetzt an nicht mehr zu lesen. Die schöne Welt der Dichtung, der darstellenden und der bildenden Künste, später vor allem auch der Musik war ihm ein Lebens- oder besser: ein Überlebensmittel.

Noch besser ist die übermittelte Sentenz, wieder voll der unfreiwilligen Selbstironie:

Ein norwegischer Kritiker fasste seine Bewunderung für das Werk in das etwas zweideutige Kompliment, die Deutschen seien ein sonderbares Volk: Erst brächten sie einen Halunken wie Hitler hervor, und dann einen, der so über ihn so schreibe wie Joachim Fest.

Nirgendwo steht ein Wort über seine vor allem geistige Nähe zu Ernst Jünger oder eine Analyse seiner Freundschaft mit Ulrike Meinhof. Der schon zitierte Fuhr stellt ernste Fragen, ohne zu versuchen, sie zu beantworten:

Man möchte wissen, wie sich mit dem Lebensprogramm des ego non die lebenslange obsessive Beschäftigung mit den Gesichtern des Dritten Reiches verbindet. Warum wurde Fest in aller Freiheit und Unabhängigkeit nicht Kunsthändler oder Jurist? Warum näherte er sich dem Antibürger Hitler, jener bizarren Grimasse historischer Größe so weit wie das vor ihm noch kein Autor gewagt hatte? Was hat ihn an dem gefallenen Bürger und verirrten Künstler Albert Speer fasziniert, ja, warum ließ er sich, wie er selbst später eingestand, von ihm blenden?

Ja, was hat Fest von seinem Vater gelernt? Harry Nutt erzählt eine – für ihn – rührende Geschichte (Link):

Im Buch erzählt er, wie er den Vater einmal zu überreden versucht hat, seine Geschichte aufzuschreiben. Dieser wehrte jedoch lakonisch ab. „Wir schweigen alle. Aus Scham, Angst und Beklommenheit. Ich schweige auch.“

Auch hier erfolgt kein Kommentar, keine Auflösung der negativen Parallele. Auch dort nicht, wo Nutt Hintergründe der Feuilleton-Tätigkeit Fests schildert:

Bei seinem Eintritt als Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für den Bereich des Feuilletons hatte er sich die Zuständigkeit über den Bereich der politischen Kultur vertraglich zusichern lassen. Das Wort bedeutete zunächst nicht viel, sollte seine Wirkung erst später entfalten. Mit diesem Zusatz aber wurde Joachim Fest zum Erfinder eines politischen Nachkriegsfeuilletons, dessen Deutungshoheit innerhalb der Medien mit dem legendären Historikerstreit seinen Anfang nahm und für viele Jahre anhalten sollte.

Keine Zeitung hat Hannes Heer gebeten, einen Nachruf zu schreiben, wo er doch der stärkste Kritiker Fests ist (Link). In einem Interview für die TAZ sagte Heer (Link):

Für mich ist Fest weniger ein Historiker als ein Geschichtspolitiker, und zwar der einflussreichste der Bundesrepublik. Fest ist ein Verhängnis, dessen Geschichtslegenden eine wirkliche Anerkennung von Schuld und Verantwortung massiv erschwert haben. Dass er als 80-Jähriger jetzt Triumphe feiert, beschreibt, wo die Bundesrepublik und deren publizistische Eliten stehen.

Bei den Nachrufen hat es bis heute kaum kritische Töne gegeben. Eine rühmliche Ausnahme: Joachim Güntner nennt Fest in der NZZ einen „bedeutenden konservativen Publizisten“ (Link). Das ist nüchtern und richtig. Die folgende Analyse klingt für mich überzeugend:

Hitler fasste er – mit Hannah Arendt – anthropologisch auf: als Inkarnation der Möglichkeit des Bösen. Und damit als zeitentrückt. Das nackte Böse, die offene Brutalität, die sich um Verkleidung gar nicht schere und ihre mörderischen Absichten klar ausspreche – das verhindere die Historisierung dieser Figur. Die Faszination durch das Dritte Reich, prognostizierte Fest, werde wohl «so lange bestehen, bis der nächste Böse auftritt». Moralisch sei aus der Geschichte nichts zu lernen. Was ein Mörder, was verwerflich sei, hätten die Menschen immer gewusst. Nur anthropologisch und politisch kann man aus dem Vergangenen lernen. Anthropologisch: dass das Böse lebt. Politisch: dass man wachsam zu sein hat und skeptisch sein muss gegenüber den Wölfen im Schafspelz eines Weltverbesserung versprechenden Utopismus.

Fazit: Viel Faszination, noch mehr Verbeugung vor der Faszination des Bösen, viel Polemik und noch mehr politische Überzeugungen, die nicht unbedingt klar, programmpolitisch formuliert wurden, dafür um so konsequenter durchgezogen. Dafür viel Lob seitens der FAZ oder Schäuble (bei der Preisverleihung neulich), dafür keine posthume Kritik in den Medien. Ist das die Selbstidentifikation der Bundesrepublik von heute? Hat die TAZ tatsächlich recht?

 

Handke und seine Verteidiger Freitag, 2. Juni 2006

Filed under: Deutschland,Literatur,Medien,Peter Handke,Politik,TAZ — peet @ 13:43 Uhr
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Die Posse um den abgesetzten Heine-Preis geht weiter. Spannend, wie viele sich auf die Seite des leidenden Opfers stellen und wie sie das tun. Seine Verlegerin (Ulla Berkéwicz), sein Filmregiesseur (Wim Wenders), seine Kritikerin (Sigrid Löffler) – alles feine Leute – sind total empört und schlagen in dieselbe Kerbe wie Jelinek (Link). Diese Methode ist medienwirksam und hat einen „der bedeutendsten Autoren der Gegenwart“ (Löffler) zu den ganz „sonderbaren und eigentümlichen“ (F.Schirrmacher, Link) Stellungnahmen verführt, die fast an der Grenze des Zumutbaren liegen. Vielleicht hat sein ungewolltester Verteidiger, Wiglaf Droste, Recht:

Schon möglich, dass Peter Handke einen Dachschaden hat.

Ich habe wenig Aussagen zu dem eigentlichen Thema gefunden. Kaum einer hat sich über die Unproffesionalität der Jury ausgelassen. Sie hat versagt, in dem Moment, wo sie nach Weizsäcker an Handke gedacht hat, mit dem Plan, nach Jelinek an Handke zu denken. Es wurde kein Konsens gefunden, zu dem man hätte stehen können. Jetzt kann Sigrid Löffler sich heldenhaft empören, die Juri verlassen und sich für sauber erklären, in der Tat aber hat eben sie zu wenig an die Konsequenzen ihres internen Pro-Handke-Lobbyismus gedacht. Der Ruf des Heine-Preises ist hin. Die lächerliche Maschinerie der Literaturpreise wurde offenbart. Das ist möglicherweise gar nicht so schlecht, denn es ist längst ein Betrieb geworden, einer von vielen, die die Kultur ruinieren. Inzwischen bekämpfen die Süddeutsche und die FAZ einander und versuchen sich pro et contra zu positionieren, wo es am wenigsten passt, und am besten jeden Tag anders, um unparteiisch zu wirken und die Diskussion zu verlängern und noch heißer zu machen. Handke als Dichter wird immer mehr zum Opfer stigmatisiert und mit Inbrunst verteidigt. Auf dem Höhepunkt dieser Verteidigungsszenerie erscheint ein Text von Botho Strauß, der das non plus ultra der gesamten Schlammschlacht bis dato wurde.

Eine schlimmere Fürsprache kann man Handke nicht wünschen, sie offenbart die dunkelsten Hintergründe der gesamten Diskussion und erinnert schon wieder an die Walser-Debatte, an die Sätze, wie „man wird doch wohl noch sagen dürfen“, die die öffentliche Seele (Verzeihung!) masturbieren, ohne befriedigen zu können. Allein die Liste der zu vergleichenden Vorbilder, die Strauß einfallen, sagt das. Er argumentiert darüber hinaus haarsträubend:

Was bleibt von Handke?

Im Titel schon reduziert Strauß den Dichter auf einen Teil seines Schaffens, utilisiert ihn. Diese Methode wird weiter angewendet:

Was bleibt von dem Gefangenen im Pisaner Käfig, dem gegen Roosevelt eifernden Faschisten? Es bleibt der überragende Rhapsode und Poet, der Matador der Moderne, der reiche Anreger und Talenteförderer Ezra Pound.

Schwarzweiß, entweder-oder? Nein – sowohl-als-auch!

Was bleibt von dem berüchtigten Rechtslehrer Carl Schmitt, dem man Mitwirkung an den Nürnberger Rassengesetzen nachwies? Es bleibt der einflußreichste Staatsrechtler des zwanzigsten Jahrhunderts, der intuitivste Denker über Verfassungs- und Rechtsgeschichte, dessen Einfluß weit über die Grenzen Deutschlands hinaus lebendig blieb.

Na-na, wir wollen nicht übertreiben: Einen „intuitivsten Denker“ im Fach der „Verfassungs- und Rechtsgeschichte“ kann nur ein getreuer Leser einer „Jungen Freiheit“ gebrauchen, welche Strauß liebevoll einen „Dichter der Gegen-Aufklärung“ nennt. Aber auch nach der gebührenden Diminuierung der Bedeutung Schmitts bleibt beides an ihm hängen – sowohl seine Mitwirkung an der Naziwelt als auch seine Beobachtungen der Staatsgeschichte, auch wenn sie eher ein Bestand der neurechten Denkweise sind als die der wahren Geschichte.

Von Heidegger zu sprechen und dabei seine Rolle als brauner Universitätsrektor hervorzuheben erweist sich inzwischen als Lächerlichkeit.

Da irrt sich aber einer. Inzwischen ist es nicht mehr möglich, über den feinen Philosophen Heidegger zu reden, ohne seine Mitwirkung an dem Gebäude des Dritten Reichs zu erwähnen. Seine Nachwirkung im selben Sinne gehört auch dazu.

Was bleibt aber von Brecht, einem Dichter, dem die Revolution wichtiger als Menschenleben war und der gegen den blutigen Stalin nur ein wenig Dialektik ins Feld führte? Es bleibt einer, der die Dramaturgie des Theaters nachhaltiger veränderte als jeder andere europäische Autor und der noch bis tief in die Mentalität und Empfindungskälte des heutigen Theaters beherrschend wirkt.

Aaah so! Strauß will objektiv aussehen, ein Linker muß dafür geopfert werden. Auch in diesem Fall – keine Dichotomie bitte! Sowohl ein Dichter als auch ein Kommunist, der u.a. auch darunter leiden musste. Das Eine ist von dem Anderen nicht zu trennen, auch wenn Strauß das so gerne hätte.

Was bleibt schließlich von dem angeblichen Sänger des großserbischen Reichs, Peter Handke? Nicht nur der sprachgeladenste Dichter seiner Generation, sondern wie nur Überragende es sind, ein Episteme-Schaffender (nach dem Wortgebrauch Foucaults), eine Wegscheide des Sehens, Fühlens und Wissens in der deutschen Literatur.

Jetzt kommt Strauß endlich zu seinem Helden. Bei all seinen Vorbildern lässt Strauß keinen Zweifel an ihren Vergehen (ein Faschist, ein berüchtigter Mitwirkender an den Rassengesetzen, ein brauner Universitätsdirektor, ein Revolutionär – eine gute Kompanie). Bei Handke sind seine politischen Ansichten und Handlungen nur „angeblich“ und dabei übertrieben, so übertrieben, dass sie nicht mehr glaubwürdig zu sein scheinen. Um das aufzuwiegen, baut Strauß dem angeblich größten Dichter seiner Generation einen Denkmal und nennt ihn, den Dichter, „eine Wegscheide“. Hmm, soll das ein Kompliment sein? Was bleibt dann für Strauß selbst?

Wer Schuld und Irrtum nicht als Stigmata (im Grenzfall sogar Stimulantien) der Größe erkennt, sollte sich nicht mit wirklichen Dichtern und Denkern beschäftigen, sondern nur mit den richtigen.

Wir wissen, die beste Verteidigung ist der Angriff. Strauß kommt dazu. Wenn einer so groß ist, dass er Schuld auf sich nimmt und sich Irrtümer zu eigen macht, dann solle er gerade dafür gepriesen werden, sonst sei dieser kein wirklicher Dichter und Denker. Die „richtigen“ dagegen seien Trug und Schein. Wir ahnen, gleich kommt der „political correctness“-Popanz.

Wir leben gottlob noch nicht in einer Lea-Rosh-Kultur, in der sich deutscher Geist nur geduckt bewegen soll oder rückschaudernd erstarren und jede erhobene Stirn, etwa zum Ausschauhalten, als pietätlos und mißliebig angesehen wird.

Na endlich. Ein Volksdichter bräunt sich langsam durch, die Volksgemeinschaft darf sich erfreuen. Diesen Satz werden wir noch mehrfach zitiert lesen dürfen, ganz bestimmt. Walser-, Möllemann-, Hohmann-Debatten lassen grüßen: Es geht weiter.

Aber das allgemein Richtige, ein Gezücht unserer konsensitiv geschlossenen Öffentlichkeit, ist dennoch ein am Boden schleifendes träges Ungetüm, wie sehr es sich auch selbst gefallen mag.

Einige andere aber müssen in der Höhe sich härter ausbilden und werden selbst aus einer Verrannt- oder Verstiegenheit heraus mehr Gutes unter die Menschen bringen als je tausend Richtige zusammen.

Ja-ja, härter ausbilden. Nicht mehr nicht weniger. Auf-auf zum Kampfe. Botho Strauß ist schon soweit!

Ich hoffe sehr, dass Handke sich von diesem freundlichen Bärendienst distanziert. Falls er dafür noch eine „Parallelsprache“ (Schirrmacher) findet.

Was hat er denn bei der Beerdigung Milosevics gesagt? Hat denn jemand ein Manuskript davon? Die einzige Quelle bis jetzt ist die Selbstdarstellung Handkes in „Le Monde“, die jetzt auch in seinem FAZ- (Link) und SZ-Text nachinszeniert wurde:

Die Welt, die vermeintliche Welt, weiß alles über Slobodan Milosevic. Die vermeintliche Welt kennt die Wahrheit. Eben deshalb ist die vermeintliche Welt heute nicht anwesend, und nicht nur heute und hier. Ich kenne die Wahrheit auch nicht. Aber ich schaue. Ich begreife. Ich empfinde. Ich erinnere mich. Ich frage. Eben deshalb bin ich heute hier zugegen. (Link)

Es lebe Jugoslawien. Zivela Jugoslavija. (Link)

Es gibt eine Welt Handkes und eine vermeintliche Welt. Die Wahrheit dieser vermeintlichen Welt sei keine, sie wird zumindest in Frage gestellt. Und einer, der nicht zu der vermeintlichen Welt gehört, tut etwas, nämlich geht zu einer politischen Veranstaltung, spricht in der serbischen Sprache vor zwanzig tausend Teilnehmern dieser politischen Veranstaltung und sagt dabei in seiner „Parallelsprache“, dass er nicht zu der vermeintlichen Welt gehört, dass er alles anders sieht, begreift und empfindet, dass er andere Erinnerungen und andere Fragen hat als die vermeintliche Welt und dass er mit seinen Zuhörern solidarisch ist. Dass er das verlorengegangene Jugoslawien betrauert, genauso wie Millionen von ehemaligen anderen verlorenen Seelen die Sowjetunion beweinen. Das Imperium und kleine Imperien hinterlassen ihre Spuren. Sie sprechen durch diese Rede. Handke wird politisch aktiv. Das tut er und einige Wochen später distanziert sich davon. Wie viel stimmt in diesen Zitaten mit der Rede überein? Was wird dabei verschwiegen? Wann werden wir das erfahren? Denn wir wissen:

Der bedeutende Schriftsteller Handke, so kann man vielleicht arg verkürzt zusammenfassen, neigt zu politisierenden Wutausbrüchen mit beachtlicher Fabulierkunst.

 

Dan Bar-On: Ein Interview Samstag, 30. Juli 2005

In TAZ vom 30.07.2005 steht ein Interview von Gaby Sohl mit Dan Bar-On. Er spricht darin u.a., „was Krieg und Terror in den Menschen hinterlassen haben.“

Die Schlüsselstelle ist kurz weiter:
„Die Leute werden plötzlich konfrontiert mit einer Realität, die sie lange auszublenden versucht haben. Das bringt erst einmal Depressivität. Und zum Teil bringt diese Depressivität dann Selbstdestruktivität.“

Seine eigene Lösung: „Wenn ich in sehr schwierigen Situationen war, habe ich mir immer Hilfe gesucht – vielleicht war ich einfach vernünftig genug, mir diese Hilfe zu holen?“

Über den Umgang mit Traumata: „Trauma bedeutet sehr viel Schmerz. Die meisten Leute rennen weg vor Schmerz. Menschen dazu zu bringen, dass sie anerkennen: Der Schmerz ist ein wichtiger Teil in unserem Leben, im eigenen und bei anderen, das ist eine Kunst. Das kann nicht jeder. Deswegen bleiben so viele Leute immer wieder einsam in ihrem Schmerz. Wir wissen heute so viel darüber, wie kollektive Traumata entstehen, aber unser Wissen geht nicht zusammen mit Wegen, wie wir diese Traumata aufarbeiten können. Sicher, teilweise findet man Wege … aber unser ganzes Wissen hilft uns nicht, das Trauma zu verlieren. Es bleibt. Es war immer eine Minderheit, die diesen Schmerz wirklich durchgearbeitet hat. Und es wird eine Minderheit bleiben.“go to main page