Sendungsbewusstsein

Kritische Auseinandersetzung mit den Medien

Armut nach Thilo Sarrazin und nach Anna Bergmann Montag, 6. August 2012

Im heutigen Interview, das das österreichische „Standard“ mit einer Kulturhistorikerin Anna Bergmann geführt hat, wird Thilo Sarrazin schon wieder für das Übel Deutschlands verantwortlich gemacht. Besonders klar wird das im letzten Satz:

Armut wird als parasitärer Lebensstil gedeutet, der immer mehr als eine negative Charaktertypologie und nicht mehr als ein Ergebnis unserer gesellschaftlichen Misere im Sinne eines Strukturmerkmals des neoliberalen Globalisierungsprozesses wahrgenommen wird.

Wie es für heutige Geisteswissenschaftler leider üblich ist,  gedeutet werden nicht Fakten der Kultur, sondern Interpretationen. Eine nicht genehme Deutung wird als richtig oder falsch beschildert, argumentiert dagegen wird gar nicht. Anders gesagt, es werden Argumentationsfehler des Gegners aufgelistet, der Gegner selbst wird reichlich beschimpft, die Realität nicht aber neu analysiert, Hypothesen werden nicht einmal ausprobiert oder zumindest angesprochen.
Dass nicht Sarrazin, sondern die sozial-staatliche Förderung die generationsübergreifende Armut fördert, wird dabei ausgeblendet.

 

Beschneidung ohne Ende Montag, 23. Juli 2012

Die mediale Landschaft wie die Blogosphäre Deutschlands können sich nicht beruhigen. Gestern kam in der FAZ eine Offenbarung eines „jüdischen Arztes“ zur Bewunderung freigegeben (die britische Telegraph druckte einen Zwillingsbruder dieses Textes, schon wieder mit einem guten Juden als Autor, der diesmal Jake Wallis Simons heißt und sich genauso nicht schämt wie Gil Yaron, dieser wie jener wissen einfach nicht, worüber sie schreiben). Heute beschäftigt sich die FAZ mit demselben Thema in noch zwei Texten. Stefan Schulz beweist seine Belesenheit folgendermaßen:

Nur gesunde Körper werden verletzt.

Patrick Bahners ist zu größeren geistigen Leistungen fähig. Er philosophiert ganz ordentlich, mit für ihn typischen Sprengfallen und Sprüngen:

Es geht um menschenrechtliche Normalität. Der Verweis auf das Verbot der Holocaustleugnung und die von der Bundeskanzlerin zum Element der Staatsräson erklärte Freundschaft mit Israel führt in die Irre. Die Gründe für das schnelle Handeln mit dem Ziel einer Klarstellung des Gesetzgebers fallen nicht zusammen mit den Gründen für das Gesetz.

Sollte die historisch gebotene Rücksichtnahme Deutschlands auf die Juden der Grund für die Verneinung der Strafbarkeit abgeben, wäre die Hinnahme der Beschneidung als Ausnahme charakterisiert. Und damit wäre den Antisemiten Recht gegeben, die die Parole verbreiten, vor dem aufgeklärten Bewusstsein seien die Riten der Juden nicht zu entschuldigen. Der Professor, der Putzke in dessen Assistententagen auf das Beschneidungsthema ansetzte, war durch die Lektüre Necla Keleks darauf gekommen. Wie in der Islamkritik bricht in der Beschneidungsdebatte ein rabiat religionsfeindlicher Zeitgeist durch, der im Internet zu sich gekommen ist. Durch die Meinungsforen wälzt sich eine Flutwelle der Zustimmung zum Urteil aus Köln. Ein bewundernswertes Gespür für die kommunikativen Anforderungen der heiklen Lage, in der sich die deutsche Politik deshalb befindet, spricht aus dem vor ein paar Tagen kolportierten Wort Angela Merkels, Deutschland dürfe nicht zur Komikernation werden: unschlagbar knapp und trocken, wie das „nicht hilfreich“ zur Entzauberung Sarrazins.

Der Sarkasmus der Kanzlerin ist eine Übung des Takts. Ihre drastische Warnung lenkt ab von der wahren Gefahr: Ein deutscher Sonderweg des Beschneidungsverbots müsste in der Welt als Ausdruck eines humanistisch legitimierten Antisemitismus aus schlechtem Gewissen verstanden werden, wie er in den Enthusiasmus für die Sache der Palästinenser eingeht. Wenn es so nicht gemeint gewesen sein soll, dann nimmt man den Mangel an Urteilskraft im Kölner Urteil lieber als grotesken Fauxpas, als Rechenfehler von astronomischem Ausmaß.

Er macht Putzke fertig (deswegen heißt der Artikel „Ein Rechenfehler“):

Im Kleingedruckten eines Artikels in der „Neuen Juristischen Wochenschrift“ ging Putzke nebenbei auf das Gesetz über die religiöse Kindererziehung aus dem Jahr 1921 ein. „Zur damaligen Zeit“, schrieb er, „setzte sich die Bevölkerung mehrheitlich aus Protestanten und Katholiken zusammen. Andere Bekenntnisse spielten in der Lebenswirklichkeit genau genommen keine Rolle.“ Genau genommen! Die ungeheuerliche Gedankenlosigkeit dieses Satzes ist charakteristisch für das unhistorische Denken hinter der Kampagne gegen die Knabenbeschneidung. Putzke projiziert das Ergebnis von Hitlers Vernichtungspolitik zurück auf die Weimarer Republik und bürgert die Juden aus dem nationalen Gedächtnis aus.

Er vergisst aber, wie wir soeben sahen, auch sein Lieblingsthema – die Religionsfeindlichkeit – nicht und macht sich nebenbei lustig über die (nicht vorhandene) „menschenrechtliche Normalität“ für die Juden und für Israel. Am Ende steht Gil Yaron ganz blaß im Schatten von Patrick Bahners, der auf die Gefahren „eines humanistisch legitimierten Antisemitismus aus schlechtem Gewissen“ hinweist. Fronten bewegen sich, wie auch im Fall von Christian Bommarius, der auf einmal den Antisemitismus auch entdeckte.

Viel bescheidener aber sinnvoller geht das Thema Harald Martenstein an:

Nichts, kein Terroranschlag, kein Euro, kein Hunger und kein Krieg, erregt die Deutschen so sehr wie die Vorhaut. Das Volk sagt mehrheitlich: „Na, endlich! Schluss mit der Barbarei!“ Ich habe etwa 500 Volksmeinungen gelesen. Nicht die Mehrheit, aber ein beachtlicher Teil davon ist antisemitisch. Das macht mir mehr Angst als jedes Chirurgenmesser.

In den Kommentaren dazu meldet sich zu Wort ein sympatischer junger Mann, hier mit dem Nicknamen Sebush (eigentlich Sebastian Horndasch), der ehrlich und glaubwürdig seine Lebenserfahrungen mit der jüdischen Community im Blog „Neon“ beschreibt, im guten Ton und mit Verständnis. Fast schon eine Ausnahme in diesen Tagen.

… die Beschneidung der männlichen Vorhaut ist – warum auch immer – ein extrem wichtiger Bestandteil dieser Identität. Der Gedanke, seinen Sohn nicht nach acht Tagen beschneiden lassen zu dürfen, ist eine tiefe seelische Verletzung für alle Juden. Wird der Junge nicht beschnitten, wird seine Identität und die seiner Familie beschnitten.

Klare Worte findet für die bescheuerte Debatte letzter Wochen auch Sina Hawk, eine schreibende Leipzigerin:

Ich bin vollkommen begeistert von dieser Debatte und finde, kommende Generationen sollten auf diesen Schwachsinn hinab sehen und ihn sich als Anekdote erzählen aus einer Zeit, in der jeder meinte, sich überall einmischen zu müssen.

Sehr empört ist zum Beispiel auch „Der Lindwurm“ (Bernhard Torsch aus Kärnten):

Die Beschneidungsdebatte ist, so wie sie geführt wird, natürlich eine antisemitische und antimuslimische. Wenn ausgerechnet ein deutsches Gericht ein Urteil fällt, dass sich massiv negativ auf einen konstituierenden Teil jüdischer Religion, jüdischer Tradition und jüdischer Identität auswirkt, wenn die Nazis darüber jubeln und den Juden bereits eine “gute Heimreise” wünschen und die Hälfte der Deutschen laut Umfragen ganz ähnlich denkt, dann muss doch auch der Dümmste begreifen, dass es hier natürlich nicht um das Selbstbestimmungsrecht von Kindern geht, um Sinn oder Unsinn der Beschneidung, sondern allein darum, den Juden als Barbaren zu verleumden, der böswillig seine eigenen Söhne verstümmelt, während man sich selbst als ganz doll aufgeklärten Humanisten imaginiert, der mit dem Gestus des Kolonialherren angewidert die Bräuche der Primitiven anprangert.

Im Vergleich dazu wirkt auffallend, dass die jüngeren Jünger Broders vollkommen verwirrt sind. So „Aron Sperber„, so auch „Die Menschenrechtsfundamentalisten„. Sie sehen sich jetzt herausgefordert, sich zwischen den Positionen von Broder und Kelek zu entscheiden, und merken nicht, dass es hier keine Entweder-Oder-Frage ist.

 

Die ekeligsten Texte zugunsten von Guttenberg Freitag, 25. Februar 2011

…seien hier nur verlinkt, um sie später nicht zu vergessen.
Jan-Eric Peters am 20.2.2011 (Link):

Aber: Es ist eben auch keine Staatsaffäre. Denkt man in Ruhe über die bisher bekannten Fakten nach, wird klar: Guttenberg hat gegen die Regeln der Wissenschaft und des Fairplay verstoßen, er hat einen ernsten Fehler gemacht, peinlich noch dazu. Das könnte ihn den Doktortitel kosten und einiges an Glaubwürdigkeit und Sympathie.
Doch ein Rücktritt wäre falsch, vorausgesetzt, es kommen keine Verfehlungen hinzu. Das Feld, auf dem sich Guttenberg beweisen muss, ist die Verteidigungspolitik. Hier liegen unsere Probleme, hier wird seine Tatkraft auch in Zukunft gebraucht. Das hat nicht nur der Anschlag in Afghanistan gezeigt. Die Bundeswehr hat dramatische Nachwuchssorgen, Guttenbergs mutige Reform steht erst am Anfang, sie braucht seine Leidenschaft.
Ein Rücktritt des Ministers wäre aber nicht nur für die Bundeswehr und die Regierung ein schwerer Schlag. Er wäre auch ein Signal an andere hochbegabte und kantige junge Talente, es sich mit einem Einstieg in die Politik und ihre Untiefen besser noch einmal zu überlegen, und das wäre ein Verlust für das ganze Land.

Vera Lengsfeld am 23.2.2011 (Link):

Nein, zu Guttenberg stellte sich seinen Gegnern und machte wieder einmal eine gute Figur.
Er war demütig, charmant, ruhig und souverän. […] Zu Guttenberg hat den Mut gehabt, zuzugeben, dass er sich bei der Anfertigung seiner Dissertation maßlos überschätzt hat. Wenn er in den letzten Tagen gelernt haben sollte, in Zukunft vorsichtiger mit den Karrieren seiner Untergebenen umzugehen, weil er selbst in den Abgrund blicken musste, hat die Debatte sogar einen Kollateral- Nutzen gehabt.
Wie konnte zu Guttenberg die Hatz überstehen, wo sich doch fast der gesamte politisch-mediale Komplex einig war in dem Bestreben, ihn diesmal endgültig zu Fall zu bringen?
Zu Guttenberg ist nicht nur die Ausnahme unter den christdemokratischen Politikern, weil er nicht feige ist. Er hat auch davon profitiert, dass sich die ehemals schweigende Mehrheit zu artikulieren gelernt hat. Bild-Chef Kai Dieckmann war der erste unter den maßgeblichen Journalisten unseres Landes, der erkannte, dass die Causa Guttenberg eine ähnliche Diskrepanz zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung hervorbrachte, wie der Fall Sarazzin. Bild reagierte promt und verwies auf die Pro-Guttenberg-Plattform im Internet, die innerhalb weniger Tage hunderttausende Unterstützer des Verteidigungsministers vereinte.

Ulf Poschardt am 25.2.2011 (Link):

… je geschickter sich Guttenberg aus der Affäre zog, umso wütender und ungenauer wurden Angriffe und Kommentare. […] Die Anwürfe kamen zu spät, Guttenberg hatte sich entschuldigt, nach allerlei glanzvollen Rollen als strahlender Hoffnungsträger, genialischer Wirtschaftsminister und truppennaher Verteidigungsminister nun sein Rollenfach ins gedeckt Melancholische verlegt. In einer für Politiker denkbar unoriginellen Salamitaktik hatte der Katholik Guttenberg das Ausmaß seiner Sünde portioniert und dabei nicht an – wenn auch wohlklingender – Selbstkritik gespart, dass die moralischen Anwürfe an ihm abperlen mussten. Er definierte für sich das Ausmaß seiner Schuld, legte die Buße in Gestalt von gesenkten Blicke, ruhenden dann abgelegten Doktortiteln selbst fest und tat so, als wäre er fortan mit sich im Reinen. Dabei war er wohl eher mit seiner Performance im Reinen. […] Die Deutschen entwickeln gerade ein pragmatisches, ja realistisches Verhältnis zur Moral. Das dimmt jene fast zwanghafte Neigung zum Überkorrekten, die im Rest der Welt hinreichend belächelt wird. Werte erodieren dadurch nicht, sondern werden im Kontext von Biografie und Lebenswelt eingeordnet. In bester marxistischer Tradition werden Moral und Interessen zueinander in Beziehung gesetzt. So relativiert sich auch die Idee einer metaphysischen Transzendenz.

Die Moral muss zum Leben passen und nicht umgekehrt. […] Karl-Theodor zu Guttenberg ist ein interessanter Fall, weil er enorme Fähigkeiten und Talente besitzt, wie sie im politischen Betrieb nur äußerst selten anzutreffen sind, aber eben auch eine Reihe von Schwächen, die genauen Beobachtern schon vor den Affären aufgefallen sind. […] Dem CSU-Politiker ist aufgrund seiner intellektuellen wie sozialen Begabungen zuzutrauen, dass er aus den Schrammen und Niederlagen lernt. Die meisten Deutschen wünschen sich dies.

Das ist der Poschardt, von dem sogar in der Wikipedia steht, dieser habe “ gefälschte Interviews und Stories publiziert“. Es bleibt zu hoffen, dass Guttenberg auf dessen Lob besonders scharf ist :-)

UPDATE. Ach ja, und Angela Merkel darf hier nicht vergessen werden.
Am 21.2.2011:

Ich habe einen Verteidigungsminister berufen und keinen wissenschaftlichen Assistenten… Das ist, was für mich zählt.

Am 23.2.2011:

Die Entscheidung der Uni Bayreuth liegt auf der Linie dessen, was der Verteidigungsminister vorgegeben hat. Sie macht daher Sinn.

 

Eine angenehme Genetik und Biochemie mit und ohne Sarrazin Montag, 6. September 2010

Das Halbwissen ist sich sicher und der Tsunami der Empörungen hört nicht auf. Alle wissen auf einmal, was richtig und was falsch ist. Thilo Sarrazin wird vorgeworfen, die „rote Linie“ auf dem Wege zu den Nürnberger Rassengesetzen überschritten zu haben. Mit anderen Worten, er wird dafür verantwortlich gemacht, wenn er als Rassist beschimpft wird.
Ich teile seine These, „Intelligenz ist zu 50 bis 80 Prozent angeboren“, nicht. Ich glaube auch keinem Genetiker, der das sagt oder von welchem Sarrazin das übernimmt. Sarrazin glaubt das, ich kritisiere ihn dafür. Mein Bezug bleibt dabei die Aussage der Wissenschaft, wie zum Beispiel von Kerstin Elbing vom Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland (Link):

Dass es bei Volksgruppen genetische Unterschiede in Bezug auf Intelligenzleistungen geben könnte, ist nach dem gegenwärtigen Stand des Wissens nicht zu erwarten. Intelligenz wird von vielen Genregionen beeinflusst, die in jedem Individuum neu zusammengewürfelt werden. […] Dass es auch messbare Unterschiede in Intelligenzleistungen gibt, liegt nur daran, dass die Intelligenztests durch kulturelle Vorerfahrungen beeinflusst werden. Jede Volksgruppe, die einen Intelligenztest auf der Basis ihrer eigenen Kultur entwickeln würde, würde feststellen, dass die meisten anderen Kulturen durchschnittlich schlechtere Leistungen zeigen als die Mitglieder des eigenen Kulturkreises. […] Dass wir neben den offensichtlichen Unterschieden in den Hautfarben überhaupt Ethnien unterscheiden können, liegt an den ausgesprochen hoch entwickelten kognitiven Fähigkeiten des Menschen, die für sie relevante Informationen aus der Umwelt akzentuieren. Deswegen können wir als Europäer auch sehr gut europäische Volksgruppen unterscheiden, asiatische aber viel schlechter. Umgekehrt ist es aber genauso – Asiaten können europäische Volksgruppen viel schlechter unterscheiden. Was uns subjektiv als großer Unterschied erscheint, muss daher nicht bedeuten, dass es auch tatsächlich einen großen genetischen Unterschied gibt.

Fazit: Herr Sarrazin hat die grundlegenden genetischen Zusammenhänge falsch verstanden – seine Aussagen beruhen auf einem Halbwissen, das nicht dem Stand der Evolutionsforschung entspricht.

Erstaulicherweise ist aber Thilo Sarrazin nicht der Einzige, der Stuss in diesem Sinne redet. Zum Beispiel, zitiere ich hier Gottfried Schatz, der von der NZZ als „eine internationale Kapazität“ auf dem Gebiet der Biochemie eingeführt wird (Link):

Wir Menschen haben, im Gegensatz zu Tieren, nicht nur ein genetisches System, sondern deren zwei: ein chemisches genetisches System, das sich auf das Erbmaterial DNS gründet. Und ein kulturelles genetisches System, das kulturelle Werte von einer Generation zur nächsten überträgt. Epigenetische Veränderungen sind Brücken zwischen diesen beiden Systemen und schenken uns damit beträchtliche Freiheit, unser Leben zu gestalten. Die Behauptung, eine stärkere Vermehrung einer bestimmten Gruppe führe zu einer Volksverdummung, ist deshalb mehr als fragwürdig – und unnötig provozierend.

Was soll ein Ökonom daraus verstehen, wenn er per se dem Buch glaubt?
Und noch ein Beispiel, aus dem Interview mit dem anerkannten Hirnforscher Michel Friedman (Link):

Die Hirnforschung weist nach, dass die meisten jugendlichen Wiederholungsgewalttäter in ihrer frühesten Kindheit lang anhaltende Gewalterfahrungen gemacht haben. Dies wird unwiderruflich im Gehirn gespeichert. Zusätzlich haben sie einen unterdurchschnittlichen Serotoninspiegel – ein Stoff, der bei Angstgefühlen eine große Rolle spielt. Aggressives Auftreten ist oft Folge einer biochemisch hervorgerufenen Wahrnehmung von Unterlegenheit. Darauf reagieren diese Jugendlichen so, wie sie es von Kindesbeinen an gelernt haben: Sie schlagen zu. Mit der hehren Vorstellung von einem menschlichen Willen, der sich frei für das Gute und gegen das Böse entscheiden könne, kommen Sie da nicht mehr viel weiter. Unser ach, so großartiges Bewusstsein ist nichts anderes als die nachträgliche Legitimation dessen, was biochemisch in unserem Hirn längst „entschieden“ ist.

Insofern würde ich Ruhe empfehlen und nicht von den Dingen reden, von denen man sowieso nicht viel versteht:
And don’t stuff up your head with things you don’t understand.“ („Drei in einem Boot“)

 

Sarrazin-Debatte entpersonalisieren! Samstag, 4. September 2010

Eine Woche oder schon mehr wird der Fall Sarrazin in der Politik und in den Medien aufs heftigste verarbeitet. Zuerst entstand der Eindruck, die totalitäre Methode, mit einem Schauprozess und Sündenbockbestrafung, setze sich durch. Und im gewissen Sinne ist es das auch, denn die Bundeskanzlerin und der Bundespräsident sind sich einig und erteilen Anweisungen an den unabhängigen Bundesbankvorstand, wie der unbequeme Sarrazin von seinem Posten befreit werden soll. Die Zahl der einzelnen Personen und Institutionen, die sofort mitmachen, ist groß und beschämend.
Und trotzdem zeigt sich, dass nicht nur Leserbriefautoren, sondern auch einzelne Journalisten zu mehr fahig sind, als beim Politboulevard mitzumachen.
Lesenswert sind insbesondere Texte, die uns mit der Art der Diskussion und mit Argumenten konfrontieren. Über die Meinungsfreiheit als wichtigste Errungenschaft der jungen Demokratie in Deutschland, die den politischen Versäumnissen geopfert werden darf, schreibt oder redet zum Beispiel Henryk M. Broder, zuerst in einem Interview (Link):

Die Reaktionen auf Sarrazin zeigen für mich vor allem, dass die Politiker vergessen haben, dass eine Demokratie nicht von richtigen, sondern von falschen Meinungen lebt. Über richtige Meinungen gibt es immer einen Konsens. Da ist sofort Ruhe. Falsche Meinungen dagegen provozieren immer eine Debatte. Es gibt natürlich auch falsche Meinungen, die nicht mal einen Widerspruch wert sind. Aber das, was Sarrazin schreibt, liegt innerhalb des demokratischen Spektrums. Die Folge ist, dass darüber debattiert wird. Der Versuch, Sarrazin zum Schweigen zu bringen oder ihn zu diskreditieren, wird nur neue Sarrazins hervorrufen.

Clemens Wergin folgte (Link):

Es kommt einem aber auch wie ein Exorzismus vor: Als würden die Probleme verschwinden, wenn Sarrazin als Sündenbock in die Wüste verjagt wird.

Erst dann kamen erste Versuche, sich mit Sarrazins Argumenten zu beschäftigen. Nachdenklich macht Armgard Seegers (Link):

Dass Ausländerfeindlichkeit oder die Spaltung allein durch Benennung geschürt werden, ist auch so ein Allgemeingut und trotzdem falsch. Ausländerfeindlichkeit entsteht dadurch, dass man einander nicht kennt, nicht kennenlernt, dass man nicht die gleiche Sprache spricht, dass es ungerechte Entlohnungen, scheußliche Wohnverhältnisse gibt und Menschen, die nicht wissen, dass Bildung der Schlüssel zu einem besseren Leben ist.
Ungerüffelt sagen darf man hingegen etwas über „die Amerikaner“, „die Israelis“ und „die Banker“. […] Wer unliebsame Wahrheiten benennt, wird behandelt, als hätte er gefordert, jeder, der kein guter Deutscher ist, wird bestraft, muss mehr Steuern zahlen, bekommt weniger ärztliche Versorgung oder soll wegziehen. An Minderheiten trägt die deutsche Gesellschaft ihre Identitätsdebatte aus.

Warum haben wir diese unsägliche Debatte, in der Klischees und Vorurteile ausgebreitet werden, überhaupt? Vielleicht, weil wir, anders als Franzosen oder Amerikaner gar nicht genau definieren können, wie einer zu sein hat, der zu uns gehören will. Was ist deutsch? Was muss man tun, um deutsch zu werden?

Noch ruhiger Robert Leicht (Link):

Was mich an Sarrazins Argumentation stört, liegt auf einer anderen Ebene – und nicht einmal auf der einer statistischen Relation zwischen Intelligenz und Genetik oder sozialer Schichtung. Mich stört vielmehr die Überschätzung der Intelligenz überhaupt. […] Eine gute Gesellschaft muss um das Grundrecht der Menschenwürde gebaut werden, die jedem moralisch noch nachhaltiger angeboren ist als genetisch seine Intelligenz; und natürlich zugleich auf der Achtung der Menschenwürde sowie der freien Entfaltungsmöglichkeit aller andern.

Einen kurzen launigen Text hat Hamed Abdel-Samad abgegeben (Link):

Was in dieser Debatte untergeht, ist Sarrazins Recht auf Meinungsäußerung. Man hält Gericht über ihn oder bejubelt ihn unreflektiert. Ob als Held oder als Sündenbock, Sarrazin ist ein unfreiwilliger Freund der Untätigen und Ratlosen geworden. Alle Versäumnisse, Hoffnungen und Vorwürfe haben nun eine Adresse: Superman Sarrazin. Alle, die die Integrationsmisere zu verantworten haben, können sich nun auf die Schulter klopfen und sich gegen den Buhmann verbünden.

Aber Sarrazin ist lediglich ein Ausdruck davon, dass wir ein Problem haben. Er ist der Überbringer der Botschaft, dass bei uns eine verkrampfte Streitkultur herrscht. Es fehlt eine Atmosphäre, in der ehrliche Kritik zulässig ist und die frei ist von Stimmungsmache, Apologetik und Überempfindlichkeit.

Ähnlich lustig macht sich Jürg Dedial über den Lauf der Debatte in der NZZ (Link):

Das sittliche Deutschland kann jetzt mit den Vokabeln der Unerträglichkeit und der weit übertretenen Grenzen und roten Linien versuchen, Sarrazin mundtot zu machen. In diesem Milieu der Korrektheit, zu dem auch das politische Establishment zu zählen ist, gehört dies zum Alltag. Es ist Teil der wohlfeilen Selbstdarstellung einer Klasse, bei der nur noch scharfe Bisse und laute Verrisse zählen; die Inhalte einer Auseinandersetzung sind unwichtig. Man kann fast alle Exponenten des linken Lagers aufführen, die sich jetzt in ihrer Empörung gegenseitig übertrumpfen. Aber auch die Bürgerlichen, angeführt von der Kanzlerin und dem Aussenminister, schämen sich laut für das Land und fordern oder empfehlen die Entfernung des kritischen Geistes aus ihrem Gesichtsfeld.

Freilich hat sich unseres Wissens bis jetzt keine dieser führenden politischen Figuren ernsthaft mit den tiefer liegenden Fragen auseinandergesetzt, die Sarrazin schon seit längerer Zeit aufwirft. Dabei ist die Politik die eigentliche Adressatin von Sarrazins Streitschrift. Wenn der Autor die Probleme der islamischen Minderheit beleuchtet, so fragt er in Wirklichkeit die Politik, wie es kommen konnte, dass die Muslime in Deutschland im Vergleich zu anderen Einwanderergruppen so schlecht integriert sind und in den relevanten Sozialstatistiken so dürftig abschneiden. Er fragt, wie es hat kommen können, dass in zahlreichen Städten, aber auch auf dem Land, richtige Parallelgesellschaften entstanden sind, die sich um eine Anpassung an deutsche Normen und Traditionen überhaupt nicht zu kümmern brauchen. Und er fragt, wie angesichts der von ihm gebrandmarkten und kaum widerlegten Tendenzen, bei denen die Integration nur eines der Probleme darstellt, das wirtschaftliche, politische und soziale Gewebe der deutschen Nachkriegsdemokratie überleben kann. Dies sind Fragen, um deren Beantwortung Deutschland nicht herumkommt.

Die grosse Gefahr liegt darin, dass die Politik (einmal mehr) nicht erkennt, wie sie an einem breiten Unbehagen und Misstrauen in weiten Teilen der Bevölkerung vorbeiagiert. Man kann sich in Empörung und Entrüstung ergehen; aber man darf dabei nicht blind werden. Und wer Sarrazin vorwirft, deutsche Wertvorstellungen zu desavouieren, muss genau prüfen, von welchen Wertvorstellungen er spricht. So gesehen scheint es, dass gerade Sarrazins Partei, die SPD, ein fast chronisches Problem mit Querdenkern und kritischen Geistern hat, die nicht in den politisch korrekten Programm-Raster passen. Gar schnell versucht sie, ihre inhaltliche Erstarrung mit Parteiausschlüssen zu übertünchen. Hessische SPD-Dissidenten oder Figuren wie Wolfgang Clement wissen davon ein Lied zu singen. Thilo Sarrazin könnte das nächste Opfer sein. Dabei sollte die Partei froh um ihn sein.

Die eigentliche Auseinandersetzung mit den Argumenten Sarrazins mussten konservative Denker übernehmen, was einerseits bezeichnend ist, andererseits irgendwie – nach meinem Geschmack – schade. Wie auch immer, sehr empfehlenswert sind Berechnungen bei kassandra2030.wordpress, dort sind auch klare Widerlegungen der logischen Fehler der Bundeskanzlerin zu finden (Link):

Ein weiteres Beispiel: Bundeskanzlerin Angela Merkel, die der Ansicht ist, Sarrazin rede „dummes Zeug“18, schreibt in der „Bild“: „Junge Menschen türkischer Herkunft sagen mir immer wieder, dass Deutschland ihre Heimat ist“.19 Das mag sein, aber laut der Studie des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsens (s.o. Fn. 1) sind es nur etwa 21% der muslimischen Jugendlichen, die so denken. Die jungen Menschen türkischer Herkunft, die Frau Merkel kennengelernt hat, „widerlegen“ also nicht die Tatsache, dass die große Mehrheit sich nicht als Deutsche sieht. […] Zum selben logischen Irrsinn gehört es, absolute Zahlen zu nennen, die ohne Bezugspunkt vollkommen nichtsaussagend sind. Wieder Bundeskanzlerin Angela Merkel in der „Bild“: „Die rund 64 000 türkischen Unternehmen in Deutschland mit ihren mehr als 320 000 Beschäftigten erwirtschafteten im Jahr 2005 fast 30 Milliarden Euro.“ Schön und gut – aber im Verhältnis zu den Deutschen ist dies eine unterdurchschnittliche Rate an selbstständigen Unternehmen, geschaffenen Arbeitsplätzen und erwirtschaftetem BIP im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung. Widerlegt hat Frau Merkel damit nur die Aussage „es gibt überhupt gar keine türkischen Unternehmer, die Arbeitsplätze schaffen“, die aber niemand getätigt hat, während Sarrazins Behauptung von dem mangelnden ökonomischen Nutzen muslimischer Einwanderer als Aggregat davon unberührt bleibt (siehe dazu oben Teil 1, Nr. 1). Nach dem gleichen Muster „widerlegt“ auch der Vorstandsvorsitzende der Türkisch-Deutschen Unternehmervereinigung, Hüsnü Özkanli, die Behauptungen Sarrazins, indem er klagt: „Wir tragen zum deutschen Wirtschaftssystem bei, indem wir Ausbildungs- und Arbeitsplätze schaffen, unsere Jugend studiert. Was sollen wir sonst noch machen … ?“ (von Christian Geyer in der FAZ von 26.08.2010 zustimmend zitiert).

Nach drei großen Talk-Runden waren mehrere Möglichkeiten da, den Stand der Debattenkultur zu bewerten. So meinte Cora Stephan (Link), ein Land erlebt zu haben,

in dem der Ökonom Thilo Sarrazin von der Politikerin Renate Künast als „menschlich schäbig“ und „gefühlskalt“ beschimpft wurde, weil er sich auf Zahlen und Statistiken bezieht. In dem eine deutschtürkische Landesministerin aus Niedersachsen, die der Presse „kultursensible Sprache“ gegenüber türkischen Migranten verordnen wollte, stolz verkündet, „sie brauche keine Statistiken und Analysen“, da sie die „Migranten ja kenne“.
Ob bei Beckmann, ob bei Plasberg: es triumphierten die Menschlichkeit und das Leben über das statistische Teufelszeug, das „Menschen auf Zahlen“ reduziere. Selbst die Bundeskanzlerin, von Haus aus Naturwissenschaftlerin, übernahm den neuen Gefühlssprech und ließ uns an ihren Empfindungen teilhaben. Alles andere hieße ja wohl auch, über eigene Versäumnisse zu reden.
Denn Thilo Sarrazin konstatiert, was schlechterdings nicht zu leugnen ist: eine Minderheit hierzulande will sich nicht integrieren, da sie diese Gesellschaft, ihre Kultur und ihre autochthone Bevölkerung verachtet – deren Vertreter wiederum trauen sich nicht, den nötigen Respekt auch einzufordern. Das ist und bleibt der Hauptpunkt der Debatte – die nun im Namen der Menschlichkeit und der Gefühle zusammen mit Thilo Sarrazin erlegt und erledigt werden soll.
Es ist an Schäbigkeit nicht zu überbieten, was uns hier als Debattenkultur, als Weltoffenheit, als Menschlichkeit und buntes Multikulti vorgeführt wird. Die Vertreter der deutsch-türkischen Community tun beleidigt und leugnen das Problem. Politiker setzen auf das dort vermutete Wählerpotential und leugnen ihrerseits, daß das hierzulande übliche „Fördern statt Fordern“ längst an seine Grenzen gestoßen ist. Und niemand vertritt die Interessen der eingeborenen Bevölkerung, die ja womöglich Gründe dafür hat, daß sie sich die Objekte ihrer kulturellen Sensibilität von niemandem vorschreiben lassen will.
Und Sarrazin? Ist der Sündenbock, dem blanke Menschenverachtung und blanker Hass entgegenschlagen und der dennoch und auf fast rührende Weise immer und immer wieder versucht, doch noch ein Argument loszuwerden.
Nun, Umfragewerte und Internetkommentare lassen erkennen, daß das Volk mit den politischen Eliten auch hier nicht übereinstimmt. Beide großen Parteien haben die Gefolgschaft ihrer Wählerschaft eingebüßt. Der SPD droht ein Aufstand der Basis, wenn sie Sarrazin ausschließt. Und der Kanzlerin wird man es übel vermerken, daß sie einen wichtigen Amtsträger, die Meinungsfreiheit und die ihr von Amtswegen angemessene Distanz geopfert hat, um der SPD das Leben noch ein wenig schwerer zu machen. Und alle gemeinsam haben sich mit ihrer menschelnd aufgemotzten Verlogenheit bis auf die Knochen blamiert. Eine große Mehrheit der Deutschen sieht Thilo Sarrazin nun erst recht als den aufrechten, integren, ehrlichen, standhaften Mann, dem es an jener Aalglätte fehlt, mit der die anderen sich unangreifbar gemacht haben.
Der Fall Sarrazin ist für dieses Land eine historische Wegmarke. Und das ist in der Tat kein gutes Zeichen.

Es lohnt sich, in dem Zusammenhang zwei Beobachtungen der Illner-Runde zu vergleichen. Regine Mönch bei der FAZ (Link) sah das Eine:

Bernd Ullrich von der „Zeit“, der Grüne Özdemir und die Politikwissenschaftlerin Naika Foroutan sprachen schließlich für eine imaginäre Gruppe, für ein Wir, dass von Thilo Sarrazin gekränkt worden ist. Denn am meisten, so Ullrich, habe ja nicht Sarrazin unter dieser Debatte zu leiden, sondern die liberalen und gebildeten Türken und Moslems, die entmutigt würden. Broders Einwand, die Kanzlerin habe den Ton gesetzt, obwohl sie doch nicht als Literaturkritikerin gewählt sei und damit versucht, die Debatte abzuwürgen, konterte Özdemir: Die Kanzlerin habe Schaden vom Land abwenden wollen […] Frau Foroutan rief schließlich wie in den Hochzeiten ostdeutscher Gekränktheitsrituale „wir fühlen uns diffamiert“ (zuvor hatte sie noch „den Deutschen“ attestiert, die fühlten diese Misserfolge der Integration nur, die es so gar nicht mehr gäbe) und bedankte sich bei der Kanzlerin, weil die sich „vor uns Muslime“ gestellt hat. Und dann stellte sie gleich noch die gesamte Statistik-Analyse Sarrazins in Frage. Sie habe ganz andere Zahlen, rief Foroutan, schwenkte einen Zettel und trug mit atemraubender Geschwindigkeit vor, dass weder die Arbeitsmarktzahlen für Migranten noch die Bildungsmisere noch die Gewalttaten türkischer und arabischer Jungen oder die Familiengrößen muslimischer Einwanderer irgendeine Richtigkeit hätten. Kurzum, vergessen Sie Bildungsberichte und Mikrozensus, das rechnet Ihnen Frau Foroutan von der Humboldt Universität Berlin in Nullkommanix hinüber ins Schöne!

Die Talkrunde war verblüfft und nicht einmal Maybritt Illner mochte da noch die anderslautende Fakten-Analyse ihrer Redaktion, nachzulesen im Internet, dagegenhalten. Höflich ironisch meinte lediglich Roger Köppel zu diesem statistischen Taschenspielertrick, dass sie, Frau Foroutan, sollte sie sich geirrt haben, wenigstens nicht fürchten müsse, dann ihren Job zu verlieren. Naika Foroutan leitet an der Universität das Projekt „Heymat“ und kreiert dort, unbelastet von den Integrationsproblemen dieses Landes, die „Neuen Deutschen“. Der Begriff, so steht es im Internet, wurde von ihr bewusst gewählt „in Abgrenzung zum Begriff der ‚alteingessenen Deutschen‘, die für sich Etabliertenvorrechte reklamieren“.

Damit ist jetzt also Schluss, die Politikwissenschaftlerin scheint ihre Identitätsforschung gleich mit einer ganz eigenen, neuen deutschen Wohlfühlstatistik ergänzen zu wollen. Deren Premiere und ihr Alleinstellungsmerkmal, die Unüberprüfbarkeit, konnte der Zuschauer am Donnerstagabend bei Maybritt Illner erleben. Nun freue dich doch endlich, Deutschland.

Dagegen sah Carin Pawlak beim „Fokus“ etwas Anderes (Link):

Wenn er eine tiefe Genugtuung spürt, spricht der Jude Broder vom „inneren Reichsparteitag“. Für denselben Begriff ist die nicht jüdische Sport-Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein bei der Fußball-WM in Südafrika übrigens fast vom Mikro-Platz geflogen. „Ich glaube nur Statistiken, die ich selbst gefälscht habe“, legt Broder weiter nach. Churchill? Nein, ein Satz aus dem Reichspropagandaministerium.
Jetzt ist Berufsprovokateur Broder auf Betriebstemperatur. Die Äußerung von Kanzlerin Merkel, Sarrazins Buch sei „nicht hilfreich“, ist für ihn eine unwillkommene Einmischung. Sie sei als Politikerin gewählt und nicht als Literaturkritikerin. Broders Bombe: „Das steht in der Tradition der Reichsschriftumskammer.“ Der Gründung dieser RSK ist die Bücherverbrennung durch die Nazis vorangegangen. Ab 1934 musste, wer in Deutschland Bücher veröffentlichen wollte, Mitglied dieser Kammer sein, die unter der Leitung von Joseph Goebbels stand. Ist dieser Satz Broders hilfreich? Fällt er unter die derzeit viel disputierte Meinungsfreiheit oder ist er skandalös? Chuzpe XXL oder extreme Wahrheit? Er ist schlicht obszön.
Und ist die Erregung rituell? Nein, sie ist echt. „Jetzt muss ich die Kanzlerin verteidigen“, sagt Cem Özdemir aufgebracht. Vielleicht will er nach der Sendung Herrn Broder privat auch wieder siezen? Und Herrn Broder zum Rücktritt von irgendwas auch immer auffordern. Aber da hat Brandstifter Broder längst seine letzte Volte in dieser Biedermänner-Runde geschlagen. Was er sich wünscht von den Bürgern mit Migrationshintergrund? Also einer Deutschen wie Naika Foroutan. „Ich finde, wir brauchen mehr Deutsche, die so gut aussehen wie Sie.“ Sagt er. Und sie antwortet wirklich und mit heiligem Ernst: „Danke sehr.“ Es muss wirklich noch viel geredet werden in Deutschland.

UPDATE: Dass Broder auch in seinem Skepsis gegenüber der Zahlendaten von Frau Foroutan Recht hatte, zeigt die Überprüfung auf der „Achse des Guten“ (siehe den Beitrag von Thomas Baader).
Was ich damit zeigen will: Es ist eine Debatte da, mit unterschiedlichen Meinungen, und zum Teil mit richtigen Argumenten. Und am Ende sei Thomas Eppinger zitiert, der sich absolut zu Recht empört (Link), und zwar darüber,

dass Frau Merkel die in Deutschland lebenden Türken in Schutz nimmt. Hm. Vor wem denn?
Werden Moscheen angezündet, die Scheiben von türkischen Kulturzentren zertrümmert, werden türkische Gräber geschändet, werden Steine auf türkische Volkstanzgruppen geworfen, reißen Polizisten türkische Fahnen vom Balkon, schreit der Pöbel auf den Straßen „Tod der Türkei“?
Ich kann mich nicht erinnern, ein Wort von der Kanzlerin vernommen zu haben, als all dies einer anderen Bevölkerungsgruppe widerfahren ist. Und jetzt müssen die Türken vor einem Buch beschützt werden?
In Deutschland ist jeglicher Maßstab verloren gegangen.

Zum Schluss möchte ich hier einen Beitrag der Süddeutschen Zeitung zur Sarrazin-Debatte auseinanderpflücken, und zwar von der selbsternannten Wissenschaftlerin Lamya Kaddor, die kein Problem damit hat, sich in der medialen Öffentlichkeit als wissenschafltiche Mitarbeiterin der Uni Münster titulieren zu lassen, auch Jahre nach der unfreundlichen Verabschiedung. Auch kein Problem hatte sie mit der Finanzierung ihrer Projekte durch den Großen Libyschen Diktator. Zuerst sieht sie Sarrazin mit seinen „kruden Weisheiten“ und „Gehässigkeiten“ in der Nähe der NPD, ohne nur einmal zu zitieren. Wie hätte sie das auch tun können? Ihren Text schrieb sie Tage vor der Bucherscheinung. Dann kommt sie zum Eigentlichen (Link):

Das eigentlich Erschütternde ist der breite Raum, der ihm geboten wird. […] Seine Ausführungen heißen „Analysen“, dabei könnten Studierende im Grundstudium seine Argumente mühelos widerlegen. Warum also so viel Ehre für einen Mann, der behauptet, das Versagen von Teilen der türkischen Bevölkerung könne auch genetisch bedingt sein? Der mit der Einschränkung von Grundrechten spielt und Menschen kalt nach ihrem ökonomischen Wert in nützlich und nutzlos einteilt? Dieses Auftreten ist nicht nur selbstherrlich, es macht Angst. Sarrazin denkt nicht anders als ein Islamist; beide löschen sie den Geist des Grundgesetzes aus.

Kaddor braucht nichts zu zitieren und zu widerlegen. Sie behauptet, diffamiert und denunziert, um gleich auch zum Verbot aufzurufen. Besonders interessant ist die Logik: Sarrazins Halbwissen über die Genetik mache ihn vergleichbar mit Islamisten. Sie meint offensichtlich und spricht das etwas weiter auch aus, dass beide Rassisten seien, wenn sie Necla Kelek und Thilo Sarrazin zusammen sieht,

wenn er auf großer Bühne das Feindbild Islam unters Volk bringen darf

Über wie viel Wissen verfügt Kaddor im Bezug auf den Islam, wenn sie so über die Islamisten redet? Wenn sie vom Versagen einiger Teile der türkischen Bevölkerung auf das Feindbild Islam und weiter auf Islamisten so leicht springt?
Die Debatte muss weiter gehen. Auch wenn Frau Kaddor, Frau Foroutan und Frau Merkel das anders sehen.

 

Henryk Broder über Michel Friedman Donnerstag, 2. September 2010

…und schon wieder hat es gebrodert, und schon wieder ein Volltreffer (Link):

Thilo Sarrazin hat gesagt, Michel Friedman wäre ein Arschloch. Weil ein Mann von Welt ein Kompliment, das ihm gemacht wurde, nicht für sich behalten kann, rennt Friedmann zur BILD-Zeitung und erzählt ihr, was Sarrazin über ihn gesagt hat. Die macht daraus eine Titelgeschichte. Jetzt wissen fünf Millionen BILD-Leser, dass der Sarrazin den Friedman ein Arschloch genannt hat. Das ist nicht nett und, wie unsere Kanzlerin sagen würde, überhaupt nicht hilfreich. Und außerdem stimmt es nicht. Friedman ist ein selbstverliebtes Riesenarschloch. So, das musste mal gesagt werden.

Das hat gesessen! (Vgl. „Was Broder darf, was Friedman nicht kann“.)

 

Eva Herman verwandelt sich zur Stimme Gottes Montag, 26. Juli 2010

Oder war sie schon immer so? Wie auch immer, das folgende Zitat stammt aus dem Artikel von Eva Herman vom 25.7.2010, ursprünglich für den Blog des Kopp-Verlags geschrieben, zur Katastrophe während der Loveparade in Duisburg, mit mehreren Opfern und Verletzten (Link):

Für die Zukunft wurden jedoch Weichen gestellt: Denn das amtliche Ende der »geilsten Party der Welt«, der Loveparade, dürfte mit dem gestrigen Tag besiegelt worden sein! Eventuell haben hier ja auch ganz andere Mächte mit eingegriffen, um dem schamlosen Treiben endlich ein Ende zu setzen. Was das angeht, kann man nur erleichtert aufatmen! Grauenhaft allerdings, dass es erst zu einem solchen Unglück kommen musste.

Interessant wäre statistisch zu erfassen, wie viel so denken wie sie.

 

Deutscher Bundestag gegen Israel: Einstimmig Einseitig Freitag, 2. Juli 2010

Ein wahrlich neues Kapitel in der deutschen Geschichte. Zum ersten Mal sind alle Fraktionen und alle Abgeordneten sich einig, sie belehren Israel, auf die Hamas zuzugehen, ohne zu merken, dass sie die Grundprinzipien der deutschen Aussenpolitik dabei verletzen. Die weltweite Empörung unter den Juden ist sehr stark, die Folgen für das Ansehen Deutschlands sind noch nicht ganz klar. Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland wird sich überlegen müssen, ob es die Zeit für das Packen der bekannten Koffer angekommen ist.
Ich zitiere besonders heikle Stellen aus dem Antrag (Link):

I.3 Die israelischen Soldaten sind mit Gewalt unter Einsatz von
Schusswaffen vorgegangen, als sie nach Aussagen der israelischen
Regierung von Aktivisten angegriffen wurden. Das Völkerrecht zieht für
die Anwendung staatlicher Hoheitsgewalt gegenüber Schiffen auf hoher
See Grenzen. Es bestehen starke Hinweise, dass beim Einsatz von
Gewalt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt wurde.

Der letzte Satz ist falsch, bezeugt die ungeprüfte Benutzung einseitiger Information.

I.8 Die Blockade Gazas ist aber kontraproduktiv und dient den politischen
und Sicherheitsinteressen Israels letztlich nicht. Das erklärte Ziel der
Freilassung des von Kräften der Hamas widerrechtlich festgehaltenen
Angehörigen der israelischen Streitkräfte Gilad Shalit ist bislang nicht
erreicht. Die islamistische Hamas ist nicht geschwächt, sondern profitiert
politisch und wirtschaftlich, vor allem durch die „Tunnelwirtschaft“, von
der Blockade. Die Versorgung funktioniert unter der Aufsicht und zum
Vorteil von Hamas, die Abgaben auf die Waren erhebt, die über die
geschätzt rund 600 Tunnel aus Ägypten eingeführt werden. Daher hat
Hamas selbst kein Interesse daran, dass legale Übergänge nach Gaza
geöffnet werden.

Die Blokade wäre produktiver, wenn sich die EU und andere Hamas-Unterstützer an diese halten würden, wenn sie für die Shalit-Freilassung etwas getan hätten. Die Hamas profitiert in erster Linie von der EU- und UN-Hilfe.

I.10 Nach Angaben des Leiters der United Nations Relief and Works Agency
(UNRWA), John Ging, erschwert die Blockade die Arbeit der UNRWA.
So kann die UNRWA die Grundversorgung im Bildungsbereich nicht
sicher stellen, weil kaum Baumaterial eingeführt werden kann und es so
nicht möglich ist, Schulgebäude zu bauen. Hamas kann diese Situation
ausnutzen und die fehlenden Schulangebote machen, um die
Bevölkerung, vor allem Jugendliche, in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Dass die Hamas die Arbeit der UNRWA erschwert, wird nicht einmal als Gedanke zugelassen, obwohl dafür reale Beweise vorliegen. Irrsinnig wird angenommen, dass die Hamas auf die Bearbeitung der Bevölkerung verzichten würde, falls die Blokade ausgesetzt wird.

II.3 [Die Aufforderung,] dass der
Generalsekretär der Vereinten Nationen damit beauftragt wird, mit Israel
über den Zugang nach Gaza auch auf dem Seeweg und die Schaffung
entsprechender technischer Voraussetzungen mit dem Ziel zu
verhandeln, dass unter Wahrung der Sicherheitsinteressen Israels von
den Vereinten Nationen benötigte Güter nach Gaza eingeführt werden
können;

…ist bloßes Gerede und offenbart volle Unbedarftheit des deutschen Bundestages in den Fragen der realen Politik im Krisenregion in der Kriegssituation. Beschämend ist es ausserdem, dass die Aufforderung mit dem Delegieren einhergeht, so dass keine Verantwortung für diese übernommen wird.

II.4 [Die Aufforderung,] die Forderung der Europäischen Union nach einer sofortigen Aufhebung
der Gaza-Blockade mit Nachdruck zu unterstützen und darauf
hinzuwirken, dass Israel die Positivliste von Gütern, deren Einfuhr
möglich ist, in eine Negativliste verbotener Güter wieWaffen und
waffenfähiges Material umwandelt;

zeigt genauso die Unfähigkeit, die politische Realität wahrzunehmen und auszuformulieren: Die Blokade aufzuheben würde die Änderung der Positivliste in eine Negativliste sinnlos machen und umgekehrt. Ausserdem hat die israelische Regierung das mit der Negativliste schon getan bzw. angekündigt.

In der Aussprache zum Antrag im Bundestag (Link) wurde offenbart, dass die Initiative von den Grünen ausgeht (namentlich Kerstin Müller). Die Reden sind voll falscher Behauptungen. Zum Beispiel, Wolfgang Gehrke (Die Linke):

Diese Blockade hat auch eine Schattenwirtschaft
und einen Schwarzmarkt in Gaza hervorgerufen und hat
den Terrorismus gestärkt und nicht geschwächt.

Die Zahl der Raketen vor dem Gazakrieg und nach diesem spricht eine andere Sprache.
Köstlich ist auch sein scheinheiliger Pazifismus:

Die Blockade ist so etwas wie die Fortsetzung des Krieges.
Das kann man einfach nicht akzeptieren.

Wunderschön auch seine gespielte Naivität:

Für mich ist es ein Rätsel, wie die israelische Regierung
so dauerhaft und nachhaltig gegen die Interessen
des eigenen Landes handeln kann.

Thomas Silberhorn (CDU/CSU) muss einen Eiertanz ausführen und das tut er:

Das birgt durchaus zwei nicht zu unterschätzende Gefahren:
Zum einen kann es eine Eskalation dieses Konflikts
geben. Zum anderen liegt darin eine mögliche Belastung
auch für die Koalition gegen das iranische Atomprogramm
und die iranischen Vormachtbestrebungen in
dieser Region, die auch Israel als die größte Gefährdung
für die regionale Stabilität betrachtet.

Das sind seine Gründe, darauf zu bestehen, die Blokade der Hamas aufzuheben.
Rolf Mützenich (SPD) ist davon überzeugt, dass die Lösung des Konfliktes an dem deutschen Bundestag liegt:

Ein Teil des Problems ist – das wird dadurch
ersichtlich –, dass die unterschiedlichen Gruppen
so stark in ihrer Vorstellung verhaftet sind, dass sie glauben,
diesen Konflikt nur aus ihrer Sichtweise heraus lösen
zu können, was dazu führt, dass Empathie fehlt.
Umso mehr bin ich froh, dass zwischen diesen vier Fraktionen
ein Konsens erreicht worden ist.

Seine einzige Richtung bei den Friedensgesprächen steht fest:

Ich würde
mir wünschen, dass sowohl die Bundeskanzlerin als
auch der Außenminister gegenüber der israelischen Regierung
noch aktiver werden würden, als sie das bisher
gewesen sind.

Seine einzige Sorge:

Ich sage aber auch ganz klar: Die Zeit läuft
weg. Es stehen letztlich nur noch ganz wenige Wochen
zur Verfügung. Wir müssen aufpassen, dass wir durch
unsere Politik die Spaltung der palästinensischen Gesellschaft
nicht noch verstärken.

Im folgenden Abschnitt wird noch Schlimmeres angedeutet:

Wir haben
während der Aktuellen Stunde über die Situation im
Gazastreifen gesprochen, aber auch über die Rolle des
politischen Islam. Ich glaube, wir müssen unsere Rolle
gegenüber der Hamas überdenken und die Frage klären,
wie wir damit umgehen. Wir führen im Grunde genommen
auf Bitten der israelischen Regierung schon Gespräche
mit der Hamas wegen des entführten Soldaten Schalit.
Aber wir müssen versuchen, uns aus diesen
Widersprüchen zu befreien. Denn hinter der Hamas
droht, so glaube ich, vielleicht noch eine viel größere
Herausforderung, die wir im Gazastreifen immer wieder
gesehen haben.

Meint Mützenich tatsächlich das, was er sagt, nämlich der Hamas noch mehr auf die Kosten der Shalit-Verhandlungen entgegenzukommen?
Rainer Stinner (FDP) vertritt die alte und neue FDP-Tradition gegenüber Israel: Das eine sagen und das Gegenteil tun.

Dieser Antrag
bedeutet natürlich in keinster Weise – in keinster
Weise! – irgendein Abrücken von dem gemeinsamen
Konsens im Deutschen Bundestag über unsere historisch
bedingte besondere Beziehung zum Staat Israel. Die ist
von diesem Antrag in keinster Weise grundsätzlich berührt.
Das möchte ich sehr deutlich sagen.

Seine Argumentation:

Wir hatten heute Morgen wieder
mit John Ging beim Frühstück ein interessantes Gespräch,
in dem er uns eindrücklich geschildert hat, welche
miserablen Bedingungen humanitärer Art im Gazastreifen
herrschen.

Gemeint ist der UNRWA-Mann, der als alleiniger Experte die Abgeordneten bearbeiten durfte.
Weiter:

Wir sind der festen Überzeugung, dass
die Negativsituation im Gazastreifen gegen die Interessen
Israels gerichtet ist und dass sie insbesondere die Interessen
der Hamas fördert. Denn der Hamas ist es durch
die Blockade, die wir erleben, gelungen, eine Tunnelund
Schattenwirtschaft aufzubauen, bei der sehr viel
Geld fließt und sehr viele Leute reich werden. Der für
die Entwicklung des Gazastreifens dringend notwendige
Aufbau einer tragenden Wirtschaft im Gazastreifen wird
dadurch aber nicht erreicht.
[…] Es reicht nicht aus, die Zahl der Lkws von 140 auf
etwa 160 zu erhöhen. Es geht darum, grundsätzlich an
der Blockade zu arbeiten und sie zu beseitigen, um bessere
Lebensbedingungen zu ermöglichen.

So einfach ist das! Und gleich schwuppdiwupp ist die Hamas entmachtet und dem Frieden steht nichts mehr im Wege.
Kerstin Müller (Bündnis 90/Die Grünen) will genauso wie Stinner zu Niebels aussenpolitischem Auftritt stehen. Bei ihr klingt das besonders hübsch:

Auch
ich war nicht damit einverstanden, dass man dem Entwicklungshilfeminister
den Zugang nach Gaza verweigert
hat. Wir führen dort Entwicklungsprojekte durch.
Wir haben vor, ein Klärwerk zu bauen, das sehr wichtig
und entscheidend für die dortigen Lebensbedingungen
ist. In diesem Fall muss es ihm möglich sein, sich anzuschauen,
was dort gebaut wird.

Wie bekannt, ist noch gar nicht klar, ob die Bauarbeiten anfangen werden. Also nur ein blabla. Sie macht auch kein Geheimnis daraus, für wessen Lob sie das alles arrangiert:

Ich hatte heute ein Gespräch mit John
Ging, dem Leiter von UNRWA. Ich weiß nicht, ob einige
von Ihnen ebenfalls die Gelegenheit dazu hatten; er ist
auch morgen noch einmal hier. Er ist begeistert davon,
dass gerade von Deutschland ein solches Signal ausgeht.
Weder die armen Palästinenser noch die israelischen Hardliner wurden also konsultiert. Na toll! Das bestätigt sie auch noch deutlicher:
Ich will hier noch kurz darauf eingehen, dass es die
Sorge gibt, damit würden die Sicherheitsinteressen Israels
nicht gewahrt. Wir sagen hier sehr klar: Das soll
mit Israel vereinbart werden. Die Idee ist, dass entweder
in Aschdod oder in Zypern eine Kontrolle stattfindet und
erst dann die Schiffe nach Gaza gelassen werden. Damit
würde man erstens einen unbürokratischen Zugang
schaffen und zweitens denjenigen den Wind aus den Segeln
nehmen, die vielleicht unter ganz anderer politischer
Flagge demnächst wieder auf Gaza zusteuern wollen.
Das ist der Charme der Idee, zusätzlich einen
Seeweg zu eröffnen.

Das ist der Charme, dass die israelische Regierung nicht einmal gefragt wird. Und noch mehr Charme strahlt Kerstin Müller aus, wenn sie sagt:

Wir sehen in Europa zunehmend eine
antiisraelische Stimmung. Ich halte es auch deshalb für
wichtig, dass wir mit konkreten Initiativen – das hat
John Ging heute noch einmal deutlich gesagt – nach
vorne blicken und sehen, wie man die Lage verbessern
kann.

Realistisch und durchdacht, nicht wahr?
Philipp Mißfelder (CDU/CSU) ist in dieser Runde ein besonderes Gewicht, da er zu alldem noch im llustren Verein gegen Antisemitismus mit vorsitzt und wie Niebel ganz genau weiß, bei welchem Mist er mitmacht. Deswegen bleibt er auch lieber beim Nichtssagenden, um später nicht belangt zu werden:

Mit der heutigen Debatte und dem gemeinsamen
Antrag setzen wir ein Zeichen. Wir zeigen,
dass es uns wichtig ist, die Konflikte gemeinsam an der
Seite Israels zu lösen. Gerade vor dem Hintergrund unserer
historischen Verantwortung und unserer Geschichte,
die in der heutigen Zeit nicht von Schuld, sondern von
großer Verantwortung geprägt ist, geht es darum, gemeinsam
die Ziele des Friedens zu erreichen. Ich finde, unser
Antrag ist dabei sehr hilfreich.

Er setzt ein Zeichen, damit ist schon alles gesagt.
Am Ende sei noch eine ruhige Ablehnung des Antrags seitens Zentralrats der Juden in Deutschland erwähnt (Link), die noch nicht komplett zur Verfügung stehende scharfe Kritik vom Simon Wiesenthal Center (Link) sowie ein kleiner kritischer Artikel von Clemens Wergin (Link). Ansonsten großes Schweigen. Ich interpretiere dieses Schweigen als große Trauer.
UPDATE: Inzwischen sind weitere Kommentare online. Von Axel Zacharias, der den deutschen Bundestag gegen das Simon Wiesenthal Center verteidigt (Link):

Der bekannte Reflex, solcherart wohlmeinende Kritik gleich abzubügeln, kam diesmal merkwürdigerweise nicht aus israelischen Regierungskreisen, wohl aber mit fast pöbelnder Wortwahl von einer jüdischen Menschenrechtsorganisation. Das nun wieder lässt tief blicken.

Von Christian Böhme, der im höchtsen Maße alarmiert ist (Link). Von Henryk Broder, der es schafft, auch aus dieser Story einen gut sitzenden Witz über den gesamten deutschen Bundestag abzuleiten (Link):

War früher die so genannte Judenfrage das überparteiliche Band, das die Deutschen zusammenhielt, so ist es heute die Palästina-Frage, die ein Gefühl der nationalen Einheit erzeugt. Ein Parlament und eine Regierung, die von einer hausgemachten Krise nach der anderen kalt erwischt werden, die sich nicht einmal auf den Mehrwertsteuersatz im Hotelgewerbe einigen können, wollen einen maßgeblichen Beitrag zur Befriedung des Nahen Ostens leisten. Wie Kinder, die beim Monopoly-Spiel Opel übernehmen und Karstadt vor dem Bankrott retten möchten.
Ob der Bundestag eine fraktionsübergreifende Resolution zu Gaza abgibt oder erklärt, die Erde sei eine Scheibe, die auf dem Rücken der Fraktionsgeschäftsführer ruht, ist für den Verlauf des Weltgeschehens freilich vollkommen irrelevant. Das ist einerseits tröstlich, andererseits erschreckend. Die Abgeordneten wollen nur spielen. Gestern war es die Reise nach Jerusalem, morgen wird es wieder Räuber und Gendarm sein.

Von Ulrich W. Sahm, der den Antrag wie immer brillant und scharf genau auseinandernimmt und an diesem nichts Gutes findet (Link):

Dieser Vorschlag zeugt von Naivität und einem gefährlichen Unwissen. Der Staat Israel, dessen Existenzrecht erst noch anerkannt werden muss, sollte vorsichtig sein, sich von deutschen Parlamentariern seine eigenen „Sicherheitsinteressen“ vorschreiben zu lassen, wenn ihnen nicht einmal elementare Fakten bekannt sind.

 

Verlegers Irrweg Mittwoch, 23. September 2009

Am 11.9.2009 durfte Rolf Verleger in der Zeitung „Neues Deutschland“ einen weiteren Katechismus der guten Juden präsentieren (Link). Warum auch immer, fand der Artikel keine Aufmerksamkeit. Dem Unglück wollen wir helfen.

Das Schönste verbirgt sich am Ende des Textes. Zuerst wird die Gegenüberstellung zwischen den guten und bösen Juden mühsam aufgebaut. Verleger findet dafür seine Metapher, er spricht von der Position der Stärke und der der Verantwortung. Die Starken sind der Zionismus, die Regierung Israels, die Mehrheit seiner Bürger. Die Verantwortlichen sind Verleger selbst und seine Gesinnungsgenossen, die in Israel eine 4-5% Minderheit bilden und in Deutschland sehr laut bzw. schrill sind und von den deutschen Medien mit der besonderen Behutsamkeit liebevoll vor sich her getragen werden.
Und dann kommts:

Ist dieser Aufsatz antisemitisch?

Aus Sicht der Position der Stärke: Ja. Aus Sicht der Verantwortung: Nein. Er ist vielmehr Ausdruck einer universellen Achtung der Menschenrechte und der traditionellen Ethik des Judentums. Das Judentum war etwas und soll etwas sein, worauf wir stolz sein können. Daher muss der jüdische Staat nach Gerechtigkeit streben. Er muss Leben, Besitz, Kultur und Würde all seiner Bewohner und Nachbarn achten. Dahin müssen wir ihn bewegen.

Verleger gibt unumwunden zu: Seine Position ist aus der Sicht der überwiegenden Mehrheit der Israelis und Juden weltweit antisemitisch. Er weiß aber vom Judentum alles besser und nimmt vollmundig auf sich, alle anderen zu belehren. Der Artikel strotzt nur so von Fehlern, sowohl in der Wiedergabe der ethischen Prinzipien der jüdischen Tradition als auch in der Schilderung der historischen Abläufe. Ganz kurz nur die wichtigsten Irrungen des nicht mehr so jungen Verlegers:

Vertreibung: 700 000 Palästinenser wurden 1948 mit Gewalt und Drohungen aus Israel vertrieben

Viele von ihnen gingen von sich aus, weil ihnen der Krieg gegen und Sieg über die Juden angekündigt wurde. Alle wurden all diese Jahrzehnte hindurch in Flüchtlingslagern gewaltsam von arabischen Regierungen zusammengehalten und für die weiteren Kriege gegen Israel heiß gemacht, anstatt integriert zu werden. Die Hamas hält sie, also ihr eigenes Volk, genauso weiterhin in Flüchtlingslagern.

Enteignung: Grundbesitz und beweglicher Besitz dieser Vertriebenen wurde vom israelischen Staat beschlagnahmt.

Wer bereit war, sofort zurückzukommen, bekam Entschädigung und Wiedergutmachung. Nicht anders als enteigneten Palästinensern ist es den jüdischen Flüchtlingen aus den arabischen Staaten gegangen.

Verdrängung: Seit der Besetzung 1967 baut Israel im Westjordanland Straßen und Städte (»Siedlungen«) für nun ca. 400 000 Israelis – für Palästinenser gesperrt.

Was war da in Jordanien und Syrien, vor 1967 und nach 1967 auch? Was hat zur Besetzung 1967 geführt? Weiß das Verleger noch?

Missachtung: Die israelische Seite boykottiert seit Jahrzehnten die Vertretung der Palästinenser, aktuell die aus freien, allgemeinen und geheimen Wahlen von der Hamas gebildete Autonomiebehörde.

Die Hamas ist eine terroristische Vereinigung, deren Ziel die Vernichtung Israels ist.

Einkesselung: Israel verhindert gewaltsam freien Personen- und Güterverkehr aus und in den Gazastreifen; der Verkehr im Westjordanland, ein Gebiet drei Mal kleiner als Thüringen, quält sich durch über 600 Straßensperren.

Israel öffnet Straßen und Sperren, Übergänge, fördert die wirtschaftliche Entwicklung im Westjordanland, gerade jetzt, gerade unter Netanjahu, seit Monaten.

Verstoß gegen Recht und Gesetz: Israel ignoriert ein Gutachten des internationalen Gerichtshofs und ein Urteil des israelischen obersten Gerichts über die Sperrmauer, die die Bewohner des Dorfes Bil’in von ihren Feldern trennt; friedliche Gegendemonstrationen werden gewaltsam unterdrückt.

Die Mauer, die größtenteils ein Sicherheitszaun ist, verhindert Terrorangriffe, was durch die allgemein zugängliche Statistik jedem bekannt ist. Einzelne Windungen und tatsächliche Fehler werden heute noch im Obersten Gericht verhandelt, weswegen die Mauer immer noch nicht zu Ende gebaut worden ist.

Gefangennahme: Tausende Palästinenser sind ohne rechtliche Anhörung in israelischen Gefängnissen interniert.

Die meisten von den gemeinten Palästinensern sitzen ihre Strafe für Verbrechen nach der Verurteilung ab. Viele von ihnen werden zu Hunderten vorzeitig freigelassen. Sie bekommen Besuch von Verwandten, können studieren, telefonieren, nehmen Teil an dem politischen Leben. Wie war das mit Korporal Gilad Schalit?

Tötung: Im letzten Feldzug gegen Gaza wurden 1400 Menschen umgebracht.

Das war ein Krieg, den die Hamas gegen Israel begonnen und zu verantworten hat. Opfer sind zu bedauern, auch wenn die meisten davon Kriegsteilnehmer waren.
Fazit: Einseitig, voll auf der Seite der palästinensischen Propaganda. Über die übrigen kruden Behauptungen Verlegers vielleicht beim nächsten Mal mehr. Ganz sicher wird er noch oft genug von den friedensbewegten Medienfreunden dazu befragt werden. Ein Fall für die Neuropsychologie, würde ich sagen. Schlimmstenfalls für einen sich nächstbietenden deutschen Preis, mit einem gut ausgesuchten Laudator, wenn ihr versteht, wen ich meine.

 

Der linke Freitag Sonntag, 20. September 2009

Jakob Augstein sucht händeringend eine Nische, ein Profil für sein Ein-Mann-Projekt. Gemeint ist eine linke Boulevardzeitung, wie bekannt. Diesmal soll ein ganzes Land dem Projekt geopfert werden, und zwar Afghanistan. Die Redaktion hat einen pazifistischen Aufruf vorbereitet, der von so bedeutenden Schriftstellern wie Sarah Kuttner, Charlotte Roche, Martin Walser und gar einer Aktivistin mit dem vielversprechenden Namen Gretchen Dutschke unterzeichnet wurde. Die realpolitische Perspektive dieses Manifestes ist so dumm, dass sich einige weniger pazifistische Intellektuelle fanden, den Text zu kritisieren, insbesondere der Perlentaucher-Chef Thierry Chervel. Dieser hat zu Recht zwei Sachen kritisiert, nämlich die Verschmelzung der linken und rechten Ansichten sowie eine feige Naivität. Genauso wie in der Beurteilung der Gefahr, die von der Iran-Regierung ausgeht, wird suggeriert: Lasst uns nur still und ruhig sein, irgendwie wird es schon an uns vorbei gehen, schlimmstenfalls werden die anderen zuerst ausgerottet.

Weil dies zu wenig Zündstoff lieferte, musste Jakob Augstein sofort antworten und zwar im eigenen Medium. Daraus kann man gut sehen, dass es nicht um einen Dialog geht, sondern um – wie gesagt – die Profilierung der eigenen Plattform. Auch die Antwort ist uninteressant. Kein anderer Denker, nicht einmal der andere große Pazifist und Mitunterzeichner Roger Willemsen, hat sich zu Wort gemeldet. In Blogs kamen nur zwei Reaktionen, beide fielen vernichtend negativ aus (Blütenlese, Blogterium).

Peinlich. Diesem Unglück muss man unbedingt zu größerem Ruhm verhelfen – ich setze dieses Schreiben auch bei den FDOG – als eine gewisse Strafe :-)

 

Horst Schlämmer als Spiegel der deutschen Politik Samstag, 22. August 2009

Der Film von Hape Kerkeling über seine langjährige Kunstfigur Horst Schlämmer ist ein Ereignis. Künstlerich amateurhaft konzipiert und geschnitten, mit meist schwachen (oder gar keinen) Schauspielern besetzt, reißt er kaum Masken von den großen politischen Tieren nieder. Es sind sehr wenige gelungene Verballhornungen, die im Gedächtnis bleiben wie beispielhaft blöde Manifeste von gewissen realen Parteivertretern („bedingungsloses Grundeinkommen“), die unendliche sinnlose Begeisterungsfähigkeit von Bushido, die Pofalla-Parodie, die Merkel-Parodie, die Ulla-Schmidt-Parodie. Ansonsten ist es sehr schade, dass die effektvolle Pressekonferenz Horst Schlämmers nicht einmontiert wurde (obwohl das doch deren Sinn war!). Auch klar ist es, dass die lebendigen Improvisationen Kerkelings immer kunstreicher und wirkungsvoller als der gestellte Film sind, und Horst Schlämmers Fernsehauftritte der letzten Jahre im Film nicht übertroffen werden. Kerkeling erreicht die Höhe des großen Provokateurs Sasha Baron nicht, so schafft er nicht, Rüttgers vorzuführen. Bei Özdemir gibt es nichts vorzuführen, der macht einfach mit, weil er doch so nett ist.

Was der Film klar macht, das ist die allgemeine politische Misere Deutschlands. Schlämmer entspricht der Trostlosigkeit des realen politischen Lebens, er spiegelt sie. Damit ist schon alles gesagt. Am Rande will ich eins noch nicht vergessen: Dass die festangestellten Moderatoren der Fernsehnachrichten im Film mitmachen, ist aus meiner Sicht die Verletzung der ethischen Vorschriften, was aber auch nur auf dasselbe hinaus läuft. Bettina Schausten vergisst das, wenn sie den anderen Spiegel vorhält.
Ich verlinke hier noch lesenswerte Kritiken von Rüdiger Suchsland, Peter Zander, Oliver Jungen:

Horst Schlämmer heißt nicht nur fast genauso wie der jetzige Kölner Oberbürgermeister, Fritz Schramma, er sieht auch fast genauso aus und redet fast genauso. Aber blitzgescheit ist er, so gescheit wie sein Hochleistungsdarsteller Hape Kerkeling eben. Und nach dieser Intelligenz, mag sie hier auch weggegrunzt werden, dürstet es das ausgetrocknete Land. Denn es ist nicht der Egoismus der Politik und nicht der Zynismus des Showgeschäfts, der in Kerkelings grundsolidarischem Humor seinen Ausdruck findet, sondern das zutiefst Menschliche, das man ansonsten zu verstecken gelernt hat in der Schamgesellschaft. Denn was macht Horst Schlämmer, dieses schnaufende Lamm Gottes? Er sieht Marotten und nimmt sie an, damit man mit Schlämmer über Schlämmer lacht, nie über die anderen. Horst Schlämmer, zur Schande für alle anderen Mitglieder der Kaste sei es gesagt, wäre der Politiker, dem man sich anvertraut. Denn Horst Schlämmer, das sind wir.

Einen direkten Vergleich zwischen der Kunstfigur Schlämmer und den realen Politikern zieht der Politikberater Michael Spreng durch. Es gibt auch Zeitungen, die bei der Berichterstattung zu dem Thema Fehler machen. Zum Beispiel Jörg Schindler im Kölner Stadt-Anzeiger und genauso in der Frankfurter Rundschau, der Ursula Kwasny zur „immerhin CDU-Bürgermeisterin von Grevenbroich“ leichter Hand kürt. In derselben Zeitung kann Ute Diefenbach den Regisseur des Films Angelo Colagrossi bei der Pressekonferenz nicht identifizieren („ein Italiener, den niemand verstehen kann“).

Extra sei hier noch erwähnt, dass sich offensichtlich auch solche Leute finden, die mit der Spiegel-Bedeutung der Kunstfiguren Kerkelings nicht viel anfangen können. Es gibt darunter hochgebildete Snobs, die auch „Hurz“ für gute Musik halten und sich wundern, dass diese von Kerkeling selbst runtergemacht wird (Link). Es gibt auch Politiker (Ramsauer), die schon im „Zirkus“ das eigentliche Problem der Politik entdecken. Ich glaube, davon wird im Laufe der Tage noch mehr kommen. Das ist einerseits amüsant, andererseits bestätigt noch einmal mehr die triste Atmosphäre im Lande, in dem eine satirische Darstellung der Misstände für schlimmer gehalten wird als diese Misstände selbst. Exemplarisch dafür ist insbesondere der neidische Hajo Schumacher, der sich im Offenen Brief direkt an Horst Schlämmer wendet:

Sie sind nicht relevant. Sie saugen sich einfach nur fest an diesem Land, Sie sind eine Zecke am Allerwertesten der Demokratie. Sie nutzen deren Freiheiten, um sie lächerlich zu machen. Das ist nicht komisch, sondern schwach.

Auf eine verrückte Weise bestätigen solche Invektiven nur, dass der Schlag ins Gesicht die Richtigen trifft. Wie das auch immer mit der Satire ist. Die Folgen werden von Stefan Niggemeier (hier und hier, das Meiste wird wie oft bei ihm in den Kommentaren ausformuliert) besprochen, wobei Hajo Schumacher da erstaunlicherweise mitmacht und sich vorführen lässt. Kerkeling (als Schlämmer) erscheint da auch und macht den Klamauk komplett:

also liebe freunde
isch existieren wirklich – da muss ich dem hajo recht geben!
achim steht auch voll auf hasenpauer als dauerläufer, weiste.
und immer schön wähln gehn oder laufn …
euer horst

und bitte: Streit euch nich meinetwegen, weiste.
Lohnt doch nich, Schätzeleyen

Zum Schluss verlinke ich noch YouTube-Clips, die zu diesem Posting passen. Zuerst die Pressekonferenz zum Film:

Und weil die schönsten Auftritte Schlämmers dazu auch gehören, noch drei davon. Das sind die Preisverleihung 2006 (mit Anke Engelke als Ricky):

Die Begegnung mit Claudia Schiffer und Thomas Gottschalk:

und zuletzt den Klamauk mit Damen Herman und Tietjen:

 

Leif Eriksson: ein Historiker, Germanist und Amerikanist oder ein linkssozi? Sonntag, 26. Juli 2009

Im vorigen Beitrag ging es um die enorme Aktivität eines neuen Bloggers beim „Freitag“, der von seinen vier Beiträgen drei ein und demselben Thema gewidmet hat.
Jetzt möchte ich meine Leser um die Auflösung eines Rätsels bitten: Es gibt zwei Texte. Der eine ist bei der Frankfurter Rundschau online erschienen – als ein Blogkommentar (Link), mit der Einführung:
Kommentar von: linkssozi
Geschrieben am 25. Juli 2009 um 13:08 Uhr
Eriksson1
Der andere ist beim „Freitag“ erschienen, auch ein Blogkommentar (Link), Kommentar N. 22662, mit der einführenden Zeile:

leif eriksson schrieb am 25.07.2009 um 13:11
Eriksson2

Da ich keine Unterschiede zwischen den beiden Texten finde, frage ich, ist das derselbe Autor? Wer ist er, ein linkssozi? Oder ein Historiker, Germanist und Amerikanist? Oder, um Gottes Willen, zwischen 13:08 und 13:11 ein Broderianer?

 

Broder versus Langer: Der Freitag weiss sich zu positionieren

Da Broder inhaltlich meist im Recht ist, kann man ihn nur aus der Sicht einer Klassendame mit Anstands- und Benimmvorwürfen angreifen.
Die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an Felicia Langer durch den grünen Bürgermeister Tübingens wird in die deutsche Geschichte eingehen als neue Stufe in der politischen und gesellschaftlichen Kampagne gegen Israel. Orwell lässt grüßen.
Broder versucht eine Gegenkampagne zu starten, das wird ihm selbstverständlich sofort vorgeworfen. Wie immer, Aktion und Reaktion werden ausgetauscht.
Nun mischt sich auch noch die Wochenzeitung „Freitag“ ein, das wollen wir hier festhalten: Vor einigen Tagen bot sich wie gerufen die Gelegenheit an, Broder die eine Unanständigkeit vorzuwerfen. Im Netzwerk Achse des Guten wurde ein Kollege Broders, der Journalist Posener, vor die Tür gestellt, aufgrund einer Denunziation. „Der Freitag“ hat daraus eine Story gemacht (Link), gemäß dem härteren Boulevard nach Jakob Augstein. Eine Schlammschlacht, in welcher Broder ganz gewiß nicht gut dasteht. Der Freitag wähnt sich dabei, sehr gut dazustehen.
Gestern abend hat der „Historiker, Germanist und Amerikanist“ Leif Eriksson bei dem Freitag gebloggt (Link) und dabei einen Beitrag Broders aus derselben Achse einfach so komplett hineinkopiert und das ohne Verlinkung (auch gewiß ganz anständig). Dafür mit Empörungs- und Anstandsformeln, wie es sich gehört. Nur diesmal geht das in die Hose, weil diesmal geht es um Inhalte. Darin sagt der Oberbürgermeister Boris Palmer:

Sie tragen dazu bei, dass es in Israel keine kritische Debatte über die Politik des eigenen Staates geben darf.

Darum geht es, und das macht der Freitag mit. Das ist immer wieder dieselbe irre Überzeugung, man solle von Deutschland her Israel belehren und erziehen. Diese Erzieher wissen zwar nichts über die innere Situation in Israel, nichts über das Ausmaß der Debatten dort. Sie haben keine Ahnung davon, wie rückständig im Vergleich dazu die Kritikfähigkeit der deutschen Politik und Gesellschaft insgesamt ist, sie ereifern sich trotzdem oder gerade deswegen.
Boris Palmer ist für die Kritik unerreichbar, weil er sich im Mainstream der antiisraelischen Krankheit bewegt. Der Freitag macht daraus Boulevard, wie schon viele, die an der Provokationskunst Broders schmarotzen, ohne zu merken, wie sie nur sich selbst entlarven. So, wie Eriksson in seinen vier (!) Beiträgen Giordano und die jüdische Community behandelt, ist keine feine Art. Er ist nicht allein. Auch die Redaktion macht da gerne mit und greift Giordano an, in bester Bild-Manier (Link). Versteht Augstein der Jüngere das unter härterem Boulevard? Klar:

jetzt könnt ihr euch schön weiter über Giordano Bruno streiten und ihn verbrennen oder es bleiben lassen.
(In Wahrheit seid ihr, liebe Redaktion und liebe Community, in der Frage doch eh aller einer Meinung …)

Bon chance!
UPDATE: Nach dem vorläufigen Ende der Langer-Kampagne (Ralph Giordano hat seine Ankündigung zurückgezogen – er behält seine beiden Verdienstkreuze) lohnt es sich, Giordanos Text von 1991 (Link) noch einmal zu lesen. Literarisch etwas blaß, aber immerhin argumentativ und klar.

 

Krauthammer schon wieder Freitag, 19. Juni 2009

Charles Krauthammer ist eine schillerne Persönlichkeit unter den Journalisten, er ist ein Meinungsmacher, eine wahre Thinkmachine. Ich verfolge immer  gerne seine Kolumne bei der Washington Post.

Seine neueste Kolumne ist Obama gewidmet (Link):

For all of his philosophy, the philosopher-king protests too much. Obama undoubtedly thinks he is demonstrating historical magnanimity with all these moral equivalencies and self-flagellating apologetics. On the contrary. He’s showing cheap condescension, an unseemly hunger for applause and a willingness to distort history for political effect.

Distorting history is not truth-telling but the telling of soft lies. Creating false equivalencies is not moral leadership but moral abdication. And hovering above it all, above country and history, is a sign not of transcendence but of a disturbing ambivalence toward one’s own country.

Vor einigen Tagen hat die „Jerusalem Post“ ihn interviewt, und den Text möchte ich auch empfehlen (Link):

[…] you defined Jewish music broadly as based on a sensibility rather than DNA. The lineup included the non-Jewish Dmitry Shostakovich’s so-called „Jewish finale,“ itself one of the only pieces that featured recognizably Jewish melodies. What, then, did you mean by a Jewish sensibility?

It’s music that’s either consciously or unconsciously drawn from the folk, the klezmer, the liturgical, the shtetl. Shostakovich, interestingly, absorbed that through his fellow musicians without having experienced it firsthand.

In music it would be drawn from the music of the folk. In literature it’s an interesting question, what’s a Jewish novel? Again, it has to do with whether there’s an attachment to or a feeling of or a concern with the Jewish experience and Jewish destiny, though that’s to put it very broadly and bluntly and crudely.

We’re not going to do Felix Mendelssohn. He was genetically Jewish, but he was so consciously Christian, and he tried to be European. That’s fine – he’s one of the great composers and he’s in the European canon – but he’s not particularly of interest to us simply because he happened to be genetically Jewish.

[…] In Europe I think it is that the era of Holocaust guilt is over. It was a generational phenomenon. Now that it’s over, Europe is reverting to its natural anti-Semitism – not with the virulence obviously that we saw in the early 20th century, but the norm for the 19 centuries before that – Jews as alien, Jews as troublesome, Jews as not quite trustworthy. And it’s writ large for Israel. The Jewish people have lost Europe. Israel’s lost Europe. The one place it hasn’t been lost is America, where there are tens of millions of Americans who are strongly Zionist and many other who are sympathetic. One of the things I try to do is make the case, which I find a very easy case to make, to oppose the fashionable anti-Israeli trend.

[…] How do you see the ultimate resolution?

Everyone knows what the resolution will be. It will be along the lines of the Clinton-Barak proposal in 2000 at Camp David. And I can give you the terms of the agreement on the back of an envelope right now. It will be 5 percent of the West Bank, which will involve some of the larger Israeli settlements, which Israel will take. Israel will give Palestinians equivalent territory out of Israel proper. There will be a Palestinian state, a Jewish state, and Jerusalem will be divided along the lines Ehud Barak offered, and that’s what it’s going to look like. […]

 

Integration, wie sie bei Springer auszusehen hat Montag, 15. Juni 2009

Na da habe ich doch noch etwas entdeckt: Bei dem berüchtigten Springer-Akademie-Blog, mehr als jepblog bekannt. Der große Spezialist der großen Kaderschmiede ließ seine Zöglinge am 21.3.2009 bei der Boulevardzeitung B.Z. das Thema „Integration“ groß kochen. Die Kinder waren sehr aufgeregt und anschließend voll des Selbstlobes (Link):

Eine gelungene Mischung von Integrationsgeschichten, in sämtlichen Ressorts, fast durchgehend positiv, aber trotzdem ohne moralischen Zeigefinger.

Ist das nicht niedlich?

Blättern wir das Heft durch (Link).
Zuerst große Politik: Schäuble erzählt Märchen über die gelungene Integration – keine Nachfrage, kein Nachhaken seitens der jungen Garde. Fast durchgehend positiv. Und ohne moralischen Zeigefinger, jep behüte. Dazu folgt noch ein Kommentar eines vielversprechenden jungen Journalisten:

Die ganz überwiegende Mehrheit ist hier politisch, wirtschaftlich und kulturell angekommen.

Ich sage nur: LOL
Es folgen die üblichen Sonntagsworte von Michel Friedman, Bilder-bla-bla über eine WG mit EU-Mitbewohnern, ein Schulzeitungsbericht über ein Box-Studio für Jugendliche, eine typische Bild-Reportage über eine psychisch kranke Finnin, weiteres Bla-bla über die französische Bulette, über eine „Halbperserin“ als „amtierende Miss Berlin“, über eine „VIVA-Moderatorin mit indisch-portugiesisch-ungarischen Wurzeln im Tugend-Check“, über sechs „exotische“ Restaurants. Die ARD-Serie „Türkisch für Anfänger“ wird als Beispiel der gelungenen integrativen Arbeit vorgestellt, obwohl sie „keine überragenden Quoten erreichte“. Viel weiter kann man einen Geschichtsartikel mit dem schlichten Untertitel „Die Hauptstadt ist schon seit Jahrhunderten das Zuhause von Franzosen, Juden, Polen und Russen“ bewundern. Darin glänzt die Aussage:

Die Vertreibungen und Deportationen der Nazizeit zerstören die Immigranten-Kultur Berlins.

Nicht weniger köstlich ist das Frage-und-Antwort-Spiel, das ein besonders raffinierter junger Student erfand:

Warum Klitschko Deutschland liebt? […]
Hier kann er mehr Geld verdienen als in Kiew […]

„Sehr gut“ passt zum Thema auch die Erwähnung einer Einbürgerung, und zwar eines Fußballspielers, und zwar – einer rumänischen! Bar jeglicher Ironie ist auch die Geschichte eines erfolgreichen und im Sinne der Integration exemplarischen türkischen Fußballvereins:

Vergangenes Wochenende standen sieben Deutsche, zwei Japaner und ein Gambier in der Startaufstellung – und bloß ein Türke.

Es darf auch nicht die gelungenste Integration fehlen, nämlich eine volle Seite der Bordellanoncen, mit typischen Namen, wie es sich gehört. „Damen aus zwölf Nationen“, schwärmt die junge Redaktion auf der anderen Seite. Dazwischen findet sich ein merkwürdiges Portrait eines Bauunternehmers, über dessen Erfolge wir lesen:

„Cheffe hat’s geschafft“, lobten ihn seine Angestellten. Aus dem Tagesgeschäft seines Betriebs hat sich Yüksel jetzt zurückgezogen. „Ich bin nur noch zwei, drei Tage im Monat in Berlin.“ Dann wohnt er in Schöneberg. Und die übrige Zeit mit seiner türkischen Ehefrau auf der Insel Tenedos in der Ägäis, „fernab von Baustellen“. Aus erster Ehe hat er drei Kinder. Die leben in der Türkei – mit deutschem Pass.

Ein Wunder der Integration, nicht wahr?

Der Umgang mit anderen Kulturen wird folgendermaßen vorgestellt:

Gläserne Reichstagskuppel: Die wurde vom englischen Architekten Sir Norman Foster entworfen. […]
Der Döner wurde 1971 in Kreuzberg von einem Türken erfunden. […]
Der amerikanische Polizist William Potts hatte die Idee für die erste elektrische Verkehrsampel. […]
Der Architekt des Gebäudes [das Neue Museum] ist David Chipperfield aus England.

Darüber der Titel: „Was wir ohne Ausländer nicht hätten“. Alles klar?

Bei der Aufzählung von allerlei ausländischen Merkmalen Berlins wird Carl von Ossietzky leichter Hand zum Franzosen gemacht:

FRANKREICH 13 133 Im Haus der Paris Bar in Charlottenburg lebte einst der Schriftsteller Carl von Ossietzky

Die griechische Verbindung ist noch rätselhafter:

GRIECHENLAND 9582 Mit 48 Stadtgemeinden hat Athen viermal so viele Bezirke wie Berlin

Spanien?

SPANIEN
7044 Der Stern von Schwimm-Star Franziska van Almsick ging 1992 bei den Olympischen Spielen in Barcelona auf

Thailand?

THAILAND 5772 Bei der Tsunami-Katastrophe 2005 starb in Thailand ein Berliner, der in Deutschland wegen versuchter Vergewaltigung gesucht wurde

Kongo?

DR KONGO 310 Unter Reichskanzler Bismarck fand 1884 eine Kongokonferenz in Berlin statt

Togo?

TOGO 207 Von 1884 bis 1914 war Togo deutsche Kolonie

Burundi?

BURUNDI 32 Für 33 Jahre gehörte das heutige Burundi als Urundi zur Kolonie Deutsch-Ostafrika

Ruanda?

RUANDA 27 Auf der Kongokonferenz in Berlin wurde 1884 beschlossen, Ruanda zu einer deutschen Kolonie zu machen

Papua?

PAPUA-NEUGUINEA 4 Zwischen 1899 und 1914 hießen Teile des Inselstaates Deutsch-Guinea

Keine besonderen Gedanken beim Leser dazu?

Was sagen „Experten“ in der Zeitung selbst?
Klaus Schütz:

Ich glaube allerdings nicht, dass sie sich bei uns wirklich elend behandelt fühlen. Aber sie sehen sich benachteiligt. Sie sind nun mal im Durchschnitt mehr arbeitslos als andere. Und ihre Kinder haben wohl auch nicht genug Perspektiven für die Zukunft. Aber es ist nun mal so, dass die Struktur der Berliner Wirtschaft nicht genug industrielle Arbeitsplätze bietet.

Eberhard Diepgen:

Wichtig erscheint mir aber auch ein Mentalitätswandel in der deutschen Öffentlichkeit. Wer die Probleme richtig beim Namen nennt wird allzu leicht als ausländerfeindlich beschimpft. Wir müssen auch Forderungen an die Migranten stellen und durchsetzen. Wer dreißig Jahre in Berlin lebt und immer noch kein Deutsch versteht kann dafür nicht die „böse“ deutsche Gesellschaft verantwortlich machen.

Die Frage dazu „Wie können Deutsche und Migranten besser zusammenleben?“ im Titel wird von der Redaktion mit den Untertiteln beantwortet:

Migranten müssen Beitrag dazu leisten

und

Migranten müssen sich besser integrieren

Na wunderbar.

Dann folgt eine Hetzjagd auf zwei „libanesiche Zwillingsbrüder“, die ganz im Bild-Stil „KaDeWe-Zwillinge“ genannt werden. Und die Moral der Geschichte lautet:

Empörung auch bei Eberhard Schönberg, Landeschef der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Er schimpft: „Im Fall der Zwillinge ist die Integration missglückt, in vielen anderen Fällen auch.“ Schönberg ist überzeugt, dass Integration zwar nicht in der ersten, aber oftmals in der zweiten Generation gescheitert ist.

Wieso müssen die beiden vermutlichen Verbrecher sich integrieren lassen, wenn sie weiterhin staatenlos bleiben sollen? Wenn sie allerdings tatsächliche Verbrecher sind, dann warum sollten sie nicht integriert sein? Gibt es keine deutschen Verbrecher? Andersherum – wenn sie Verbrecher sind und über gute Kenntnisse in der Ausnutzung der rechtlichen Lücken besitzen, sind sie nicht integriert? Über welche Integration redet der Mann? Und warum soll die Integration der ersten Generation, die keine ist, ein Vorbild für die zweite Generation sein? Ist das bei der Gewerkschaft immer noch nicht angekommen? Migranten sollten uns bedienen und unterhalten, das sagt die Statistik, das sagt die B.Z., das meint auch die Springer-Akademie.

Die einzige nützliche Information kommt auf der Seite 21 – über den mehrsprachigen Dienst „Call a doc“. Au weia, ich will den Doc auch :-)